Taumelnd ins Abseits

Schottische Flagge über dem Regierungsviertel Whitehall (c) 2014 Martin Herzog

Schottische Flagge über dem Regierungsviertel Whitehall (c) 2014 Martin Herzog

Laut zu hören war der Stoßseufzer vor einer guten Woche: Noch mal  gutgegangen. Am Tag nach der Wahl meldeten sich noch die anderen britischen Nationen zu Wort, vor allem die Engländer, und forderten, dass auch ihnen zu Teil werden müsse, was den Schotten mit schlotternden Knien versprochen wurde, damit sie, und für den Fall, dass sie: Nein sagen. Die Schotten sagten Nein. Puh! Die in der Woche vor der Abstimmung über Rathäusern und Ministerien hastig gehissten Flaggen in Whitehall und andernorts sind wieder eingerollt, und inzwischen weht wieder der nach wie vor gültige Union Jack.

Seitdem nichts. Grabesstille. Alles wieder in bester Ordnung. Die Medien haben noch ein paar Politikwissenschaftler interviewt, die weniger Londoner Zentralismus und mehr Föderalismus nach deutschem Muster forderten. Hat aber niemanden mehr wirklich interessiert. Ach ja, in Schottland macht sich die Nachfolgerin für den zurückgetretenen Ersten Minister Salmond bereit. Die heißt lustigerweise Sturgeon, was schon darauf hinweist, dass sich an der Parteilinie nicht so wahnsinnig viel ändern wird (Salmon ist das englische Wort für Lachs, Sturgeon für Stör).

Dass die Mitgliederzahl der schottischen Unabhängigkeitspartei SNP (Scottish National Pary) seit dem Referendum um fast das Dreifache gestiegen ist (von 25.000 auf knapp 70.000) wird im ewig um sich selbst kreisenden London nur nebenbei zur Kenntnis genommen. Der Politikbetrieb ist schon wieder ganz woanders: außenpolitisch beim dritten Golfkrieg, wie  der Einsatz gegen die Islamisten-Horde ISIS hier genannt wird, innenpolitisch beim weiteren Erstarken der Europa-Hasser von UKIP (United Kingdom Independence Party).

Weil die vor allem den Tories zu schaffen machen, üben sich die Konservativen vor ihrem jährlichen Parteitag in starker Rhetorik. Der zuständige Justizminister Chris Gryling kündgt an, Großbritannien werde sich von der Europäischen Menschenrechtscharta lossagen und so verhindern, dass künftig Entscheidungen des britischen Supreme Court vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgehoben werden können – so geschehen vor einem Jahr, als das Straßburger Gericht in einem Abschiebefall gegen den Islamisten Abu Qatada zum großen Ärger der Briten keine Beweise zuließ, die unter Folter zustande gekommen waren (vergangene Woche ist der inzwischen dennoch abgeschobene Jordanier in seinem Heimatland frei gesprochen worden, aus Mangel an Beweisen – kein Nachweis, dass hier derfalsche vor gericht steht, nur Beleg dafür, dass ‚Beweise‘ aus Folterbefragungen in jeder Hinsicht idiotisch sind). Solche Dinge sollen nicht wieder vorkommen dürfen, schimpfen rechte Hinterbänkler. Wie kann es sein, dass irgendwelche daher gelaufenen Richter irgendwo in Frankreich unser höchstes Gericht zurückpfeiffen dürfen? Wir müssen wieder Herr im eigenen Haus werden!

Dass die anderen EU-Staaten ruhig dabei zusehen werden, wie Großbritannien den rechtlichen Kern der Europäischen Union mal eben in die Tonne tritt, ist ziemlich unwahrscheinlich. Der britische Kulturminister Savid Javid aber gibt sich zu dem Thema unverdrossen. Schließlich habe man in den Verhandlungen mit der EU ja auch schon andere Erfolge erreicht, wie den Austritt aus dem EU-Rettungsschirm (meines Wissens waren sie nie dabei) und Reduzierung des EU-Budgets (es war eine Deckelung). Und wenn nicht, dann gebe es keinen Grund, vor der Vorstellung eines EU-Austritts Großbritanniens Angst zu haben, da müsse man den Wählerwillen dann respektieren.

Mit ihrem Bekenntnis zum Verbleib bei Großbritannien haben die Schotten auch dafür gesorgt, dass sie bei einem Referendum dem Land als pro-europäisches Gewicht erhalten bleiben im ansonsten Europa-skeptischen Königreich. Ein Austritt aus der Europäischen Union wäre ohne die Schotten auf einen Schlag viel wahrscheinlicher geworden. So besteht Hoffnung. Falls das nicht reicht, werden die Schotten ihre Entscheidung von vergangener Woche vielleicht bald bereuen – mitgefangen, mitgehangen.

Dass am Tag vor einem britischen Austritts-Referendum britische Flaggen über Europäischen Behörden wehen werden, damit ist allerdings nicht zu rechnen…

Reinschauen: (Unter-) Wasserfarben-Malerei

Glass-Poppy-Alexander-James

All Rights Reserved © 1990 – 2014 artist Alexander James http://www.DistilEnnui.com

Photorealismus nannte sich eine amerikanische Kunstrichtung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Gemälde sollten aussehen wie Fotografien. Der Londoner Künstler Alexander James hat das Prinzip umgedreht: Er erschafft Fotografien, die wie Gemälde aussehen – und doch auch wieder nicht. Entrückte Stilleben von magischer Brillianz, eindringlicher Farbigkeit und eigenartig fremder Vertrautheit. Dabei bearbeitet er nicht mit digitalen Tricks und Nachbearbeitung, sondern mit viel Geduld und noch mehr Wasser. Das Ergebnis sind Bilder im Stil der alten holländischen Meister – nur ist seine Leinwand nicht weiß, sondern schwarz: „Schwarz war immer meine Leinwand,“ sagt der Künstler und lächelt, „schwarz ist voller grenzenloser Möglichkeiten,“ Das Medium für die tiefe Schwärze, auf der Alexander seine Bilder malt, ist von allen Unreinheiten befreites, wieder und wieder gefiltertes Wasser.

(c) Martin Herzog 2014

(c) Martin Herzog 2014

Seit 30 Jahren kreiert er Unterwasser-Skulpturen. Einen Totenschädel samt Dornenkrone will er heute versenken, um ihn auf Zelluloid zu bannen (in Zeiten vollständiger Digitalisierung ist diese journalistische Phrase geradezu frisch). Eine Woche lang hat er diesen Foto-Shoot minutiös vorbereitet, sein Motiv für den Unterwasser-Einsatz präpariert. Vier Tage hat allein das Befüllen des 4000-Liter-Tanks gedauert, sowie das Filtern des Wassers, um es von allen Unreinheiten zu befreien, die das Bild stören könnten (manchmal, sagt er, muss er sich sogar die Unterarme rasieren, damit kein Staub ins Wasser gerät, der an der Armbehaarung hängt).

Bildschirmfoto 2014-08-27 um 13.41.13

(c) Martin Herzog 2014

Alle seine Objekte fertigt er selbst an, bearbeitet, verfeinert sie: Die Roben seiner Models näht er selbst, die dunklen Arsenreste in einer Apotheker-Ampulle fixiert er mühsam, damit sie sich im Wasser nicht auflösen. Auch der Schädel, den er heute fotografiert, ist selbstgefertigt, der Abguss eines chinesischen Frauenschädels. Der echte würde sich im Wasser nach kurzer Zeit zersetzen. Die hölzerne Dornenkrone beschwert Alexander mit kleinen Bleikugeln, damit sie auch untergeht. von solchen praktischen Problemen abgesehen will er zudem ein Gefühl für seine Motive bekommen. Er spreche mit ihnen, sagt Alexander. Ja sicher, das klinge esoterisch, aber er müsse sich mit seinen Objekten auseinandersetzen. Kruzifixe, Lupen, Kerzenständer, Bilderrähmchen, Bändchen – zahllose frühere und künftige Motive bevölkern sein Studio, das zugleich seine Wohnung ist (oder umgekehrt?).

Bevor die Großformatkamera zum Einsatz kommt, werden die Objekte genaustens arrangiert. Und das in einem sehr widerspenstigen Element. „Es ist immer ein Kampf, die Objekte dazu zu kriegen, etwas zu tun in einer Umgebung, in der sie das tun nicht wollen. Das hier weiß nicht, ob es schwimmen oder untergehen soll. Man muss es überreden…“ Die eine Hand am Auslöser, macht Alexander mit der anderen sanfte Wellen. Die daraus entstehenden Lichtreflexe sind Teil des Geheimnisses, warum seine Bilder so unwirklich scheinen. Der andere Teil ist das Licht, und der Winkel, in dem es auf das Wasser und das Motiv trifft. Das dürfen wir deshalb nicht zeigen, es ist sein „secret ingredient“, sagt Alexander.

Bildschirmfoto 2014-08-27 um 13.43.11

(c) Martin Herzog 2014

Das Ergebnis seiner Mühen sind Fotos. Doch sieht er sich nicht als Fotograf, sondern als Bildhauer und Maler – ein Maler mit Wasserfarben ganz eigener Art: „Wasser ermöglicht es mir, auf einer Leinwand mit Millionen Farben gleichzeitig zu arbeiten. Und dann nehme ich ein Malermesser und vermische diese Ölfarben. Das reicht, mich ein Leben lang zu beschäftigen.“ Die dabei entstehenden Fotografien sind für ihn nicht das eigentliche Kunstwerk, sondern lediglich die Dokumentation seiner Kunst, und die Möglichkeit, sie transportabel zu machen. „Ich kann ja beim Kunden keinen Vier Kubikmeter-Tank aufstellen,“ schmunzelt Alexander und horcht seinem Gedanken hinterher: „Wobei, das wäre vielleicht eine nette Idee…“

(c) Martin Herzog 2014

(c) Martin Herzog 2014

Seit 30 Jahren hat Alexander James seine Technik verfeinert, um solche Bilder zu bekommen: die Farben, die Reflexe, hervorgebracht durch Wellen und Tropfen, in denen sich das Licht bricht. Dabei legt er höchsten Wert darauf, dass keines seiner Bilder technisch nachbearbeitet ist. Die Kamera arbeitet analog, die chemische Entwicklung des Films besorgt er selbst. Photoshop kommt ihm nicht ins Haus, wenn irgend möglich macht er von seinen Negativen ausschließlich direkte Fotoabzüge, Drucke von digitalisierten Fotos meidet er ebenso.

„Das ganze hat etwas sehr organisches: Ein Stück lichtempfindliche Zellulose, die in einer einzigartigen Situation war, mit einem einzigartigen Objekt in einer einzigartigen flüssigen Dynamik. Wäre es digital, würde ich ein paar mal klick klick klick machen und vielleicht ein guter Bildbearbeiter werden. Ich habe mich entschieden, die Bearbeitung vor der Kamera zu machen. Dieser Moment ist unersetzlich.“

All Rights Reserved © 1990 - 2014 artist Alexander James www.DistilEnnui.com

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Das Resultat seiner heutigen Arbeit ist ebenso düster wie vielschichtig – ein typischer Alexander James: Der Totenkopf taucht immer wieder auf in seinen Bildern. Der Schädel als Symbol für den Tod, Schmetterlinge und Blumen als Symbol für Leben und Wiederauferstehung – Anleihen von den holländischen Meistern des Barock. Es ist das Genre der Vanitas, der Vergänglichkeit des Lebens, das er neu interpretiert mit seinen ganz eigenen Wasser-Farben.

Zigarettenpause. Von seiner Terrasse  aus im 11. Stock gleich neben dem City-Flughafen hat man einen guten Blick auf die O2-Arena, das Finanzzentrum Canary Wharf, und auf die Themse. Wasser wurde für Alexander James zum Lebensthema, seit als 17-jähriger in der Karibik strandete. Dort sah er, wie der Massentourismus die empfindlichen Korallenriffs zerstörte.

(c) Martin Herzog 2014

(c) Martin Herzog 2014

Damals schlug er sich als Hochzeitsfotograf durch. Als die Touristenhotels begannen, die Riffe vor ihren Stränden zu sprengen, damit das Meer sanfter heran brandete, war er zutiefst empört. Er begann damit, aus angeschwemmten Bierdosen und anderem Treibgut kleine Unterwasser-Skulpturen zu bauen, platzierte sie auf den Riffen und fotografierte sie, bevor sie gesprengt wurden. Nicht gerade ein mächtiges Fanal im Stile von Greenpeace, doch dem Thema blieb er treu, formal wie inhaltlich: „Vanitas, Vergänglichkeit, ist heute so wichtig wie vor 300 Jahren,“ sinniert Alexander, während seine Kippe im Aschenbecher vor sich hin kokelt, „wir stehen vor immensen Herausforderungen. Die Kriege der Zukunft werden um Wasser geführt, Städte werden austrocknen, ganze Bevölkerungen werden umsiedeln müssen, um Wasser-Zugang zu haben. Vergänglichkeit, und ein Leben, von dem man schließlich sagen kann, es war wert, gelebt zu werden, ist heute genauso wichtig wie damals. Mehr noch!“

Warum er dann ausgerechnet hier lebt? „Du meinst hier, in der Höhle des Löwen, mitten im Weltzentrum der Hochfinanz?“ fragt Alexander laut grinsend gegen den Lärm eines startenden Flugzeuges an, und zeigt in Richtung Greenwich. „Ich stamme von da drüben, keine zwei Meilen Luftlinie von hier. London ist momentan mein Wohn- und Arbeitssitz. Aber das muss nicht so bleiben.“

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All Rights Reserved © 1990 – 2014 artist Alexander James http://www.DistilEnnui.com

Der Rest der Antwort bleibt in der Luft hängen. Alexander James ist kein Aktivist. Und konsequent schon gar nicht: Eben noch hat er betont, dass für seine Kunst kein Tier sterben müsse. Begeistert hat er davon erzählt, dass er sogar die Schmetterlinge züchtet, mit denen er arbeitet, und dass diese dabei nicht zu Schaden kommen. Er kühlt sie herunter, worauf sie in eine Art Stasis fallen. Dann hat er 15 Minuten Zeit, sie unter Wasser zu fotografieren. Er legt großen Wert darauf, dass seine Kunst moralisch vertretbar bleibt. Kaum 5 Minuten später berichtet er begeistert von der aufregenden Bärenjagd in Sibirien. Hm.

Sein nächstes großes Projekt will er jedenfalls auch in Sibirien angehen. Im Winter! „Bei minus 32 Grad gefriert Rohöl. Ich will mal sehen, was man mit Wasser und gefrorenem Öl anstellen, welche Skulpturen man formen kann.“

Zuvor will er noch in die USA, verrostete Buiks und andere Straßenkreuzer in riesigen Wassertanks versenken und fotografieren, jene blechernen Dinosaurier der zukunftsfreudigen 50er und 60er Jahre. Da ist es wieder, sein Thema Vergänglichkeit. Das kann man düster und morbide nennen, für Alexander James ist es ein Fest des Lebens…

Der Beitrag Der Unterwasser-Fotograf ist zu sehen in der Kultur-Sendung Euromaxx der Deutschen Welle