Diese monströse Beleidigung der Nation, dieses sperrige Getürm, dieses Monument rücksichtsloser Extravaganz!
Von welchem Bau ist die Rede? Shard? Gherkin? Cheese Grater? Walkie Talkie? Nicht ganz. Ein Zeitgenosse Queen Viktorias schimpfte derart über deren neue royale Residenz: Buckingham Palace. Und er war nicht allein: Die Times bezeichnete das nagelneue Königsdomizil gar als Eselei des Hofarchitekten John Nash.
London liebt es, seine neuen Prachtbauten zu hassen. Gerade die Gebäude, ohne die heute keine Postkartenfotograf auskommt, haben zu ihrer Bauzeit die größten Schmähungen auf sich gezogen. So schreibt ein Kommentator zur Tower Bridge kurz nach ihrer Fertigstellung Ende des 19. Jahrhunderts (ja, so alt ist die noch gar nicht):
Diese riesige aber kindische Konstruktion zeigt (…) eine beispiellose Abwesenheit aller Proportion, ärgerliche und bedeutungslose Verzierungen und ein Missverhältnis von Eisen und Stahl.
Ähnlich vernichtend das Urteil über den Neubau der heute so viel gerühmten National Gallery:
Es ist allgemein bekannt, dass die Räume, in denen die Bilder hängen, für den Zweck nur unzureichend ausgelegt sind, und dass die Defekte im Inneren den Absurditäten und dem schlechten Geschmack des Äußeren in nichts nachstehen.
Und nun stellen wir uns London ohne Buckingham Palace vor, ohne Tower Bridge, und ohne Trafalgar Square samt National Gallery. Wird schwer, was? Das hält Kritiker aller Couleur allerdings nicht davon ab, bei jedem neuen Bau erneut wutschnaubend in die Tasten zu greifen. Zuletzt ergoss sich ihr Zorn über die Scherbe mit Aussicht, die Hochhauspyramide Shard:
Der Shard könnte eine Kreatur aus dem Weltraum sein, die London zwingt, ihr visuell Tribut zu zollen. Es gibt kein Entkommen.
Quer durch die Jahrhunderte gehört im argumentativen Werkzeugkasten des Kulturkritikers die Klage über den Niedergang der Baukunst im Allgemeinen und das Epigonentum der Architekten im Besonderen zum viel genutzten Standardbesteck, nicht nur in London (siehe die Diskussion über das Berliner Stadtschloss oder die Dresdner Waldschlösschenbrücke). Hier aber wird es aber mit besonders viel Inbrunst gesungen, das Lamento über die Verschandelung der Skyline und die Scheußlichkeit der geplanten und/oder gerade im Bau befindlichen Hochhäuser.
600 Jahre lang ragte der Tower of London als das bei weitem mächtigste Bauwerk weit über alle anderen Londoner Bauten hinaus, bis zum großen Feuer von 1666, das einen Großteil der City in Schutt und Asche legte. Schlecht für die Londoner, gut für Stararchitekten Christopher Wren, der die komplette Innenstadt umkrempelte und die klotzige St. Paul’s Cathedral an die Stelle ihres viel bescheideneren Vorgängers setzte – sicher auch nicht zur Freude eines jeden Londoner Bürgers.
Vor der Kulisse der präpotenten Hochhausbauten in der City nimmt sich der Tower heute nachgerade putzig aus, und auch Londons Kathedrale wirkt eher bescheiden vor dem motzig-protzigen Hintergrund.
Doch der architektonische O-Tempora-o-mores-Gesang der hauptberuflichen Kassandras ist soeben um viele, viele Strophen verlängert worden. Um 236 Strophen, um genau zu sein. Das ist die Zahl der Hochhäuser, die in den nächsten Jahren die Londoner Skyline je nach Standpunkt bereichern (Investoren/Bürgermeister Boris Johnson) oder verhunzen sollen (alle anderen).
Während sich die Kulturpessimisten ob dieser Ankündigung moralisch auf die städtebauliche Apokalypse einstellen (der Evening Standard warnt vor Zuständen wie in Gotham City), ruft das Stadtmagazin Time Out zum Name Game auf: Wer findet die passendsten Spitznamen für die neuen Protzbauten? In bester Gherkin-(Gewürzgurken-) Tradition liegt momentan The Corn Cob (der Maiskolben) gut im Rennen, The Wonky Coffin (der schiefe Sarg), The Tampon und The Graphic Equalizer. Bei 236 neuen Hochhäusern können sie das Spielchen noch eine ganze Weile weiter betreiben.
Diese Aussichten kann man nun schön finden oder nicht. Für Vertreter letzterer Ansicht gibt es aber Hoffnung, oder sagen wir ein anerkanntes Schmerzmittel: die Zeit, die alte Wundheilerin. Es gilt das Gesetz: Sobald etwas älter ist als eine Generation, ist es „schon immer da gewesen“. Im sanften Licht der Gewohnheit löst sich die stahl- und stein-gewordene Hässlichkeit in mildes Wohlgefallen auf (einzige Ausnahme: Mode, da ist es umgekehrt). So wie heute Tower Bridge, Buckingham Palace und National Gallery schon immer dagewesen sind, werden Shard, Gherkin und Walkie Talkie immer schon dagewesen sein.
Selbst das scheußliche Barbican Centre haben die Londoner in ihr Herz geschlossen, das in den 70ern im damals angesagten Stil des Brutalismus (heißt wirklich so) gebaut wurde, und das nach der unmaßgeblichen Ansicht des Autors immer noch das in Beton gegossene Gegenstück zu einem Warzenschweins darstellt (welches ein Gesicht hat, das nur eine Mutter lieben kann – wie Walt Disney einst so treffend bemerkte).
So ist eins ist auf jeden Fall sicher: Die Bausünden von heute werden die architektonischen Perlen von morgen sein.