Skyliner – neue Wolkenkratzer für London

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Links der Cheese Grater, rechts das Walkie Talkie, in der Mitte die berühmte Gewürzgurke (Gherkin)

Diese monströse Beleidigung der Nation, dieses sperrige Getürm, dieses Monument rücksichtsloser Extravaganz!

Von welchem Bau ist die Rede? Shard? Gherkin? Cheese Grater? Walkie Talkie? Nicht ganz. Ein Zeitgenosse Queen Viktorias schimpfte derart über deren neue royale Residenz: Buckingham Palace. Und er war nicht allein: Die Times bezeichnete das nagelneue Königsdomizil gar als Eselei des Hofarchitekten John Nash.

London liebt es, seine neuen Prachtbauten zu hassen. Gerade die Gebäude, ohne die heute keine Postkartenfotograf auskommt, haben zu ihrer Bauzeit die größten Schmähungen auf sich gezogen. So schreibt ein Kommentator zur Tower Bridge kurz nach ihrer Fertigstellung Ende des 19. Jahrhunderts (ja, so alt ist die noch gar nicht):

Diese riesige aber kindische Konstruktion zeigt (…) eine beispiellose Abwesenheit aller Proportion, ärgerliche und bedeutungslose Verzierungen und ein Missverhältnis von Eisen und Stahl.

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sofern nicht anders gekennzeichnet alle Fotos in diesem Artikel (c) Martin Herzog 2014

Ähnlich vernichtend das Urteil über den Neubau der heute so viel gerühmten National Gallery:

Es ist allgemein bekannt, dass die Räume, in denen die Bilder hängen, für den Zweck nur unzureichend ausgelegt sind, und dass die Defekte im Inneren den Absurditäten und dem schlechten Geschmack des Äußeren in nichts nachstehen.

Und nun stellen wir uns London ohne Buckingham Palace vor, ohne Tower Bridge, und ohne Trafalgar Square samt National Gallery. Wird schwer, was? Das hält Kritiker aller Couleur allerdings nicht davon ab, bei jedem neuen Bau erneut wutschnaubend in die Tasten zu greifen. Zuletzt ergoss sich ihr Zorn über die Scherbe mit Aussicht, die Hochhauspyramide Shard:

1-IMG_2473Der Shard könnte eine Kreatur aus dem Weltraum sein, die London zwingt, ihr visuell Tribut zu zollen. Es gibt kein Entkommen.

Quer durch die Jahrhunderte gehört im argumentativen Werkzeugkasten des Kulturkritikers die Klage über den Niedergang der Baukunst im Allgemeinen und das Epigonentum der Architekten im Besonderen zum viel genutzten Standardbesteck, nicht nur in London (siehe die Diskussion über das Berliner Stadtschloss oder die Dresdner Waldschlösschenbrücke). Hier aber wird es aber mit besonders viel Inbrunst gesungen, das Lamento über die Verschandelung der Skyline und die Scheußlichkeit der geplanten und/oder gerade im Bau befindlichen Hochhäuser.

600 Jahre lang ragte der Tower of London als das bei weitem mächtigste Bauwerk weit über alle anderen Londoner Bauten hinaus, bis zum großen Feuer von 1666, das einen Großteil der City in Schutt und Asche legte. Schlecht für die Londoner, gut für Stararchitekten Christopher Wren, der die komplette Innenstadt umkrempelte und die klotzige St. Paul’s Cathedral an die Stelle ihres viel bescheideneren Vorgängers setzte – sicher auch nicht zur Freude eines jeden Londoner Bürgers.

TowerofLondon2Vor der Kulisse der präpotenten Hochhausbauten in der City nimmt sich der Tower heute nachgerade putzig aus, und auch Londons Kathedrale wirkt eher bescheiden vor dem motzig-protzigen Hintergrund.

Doch der architektonische O-Tempora-o-mores-Gesang der hauptberuflichen Kassandras ist soeben um viele, viele Strophen verlängert worden. Um 236 Strophen, um genau zu sein. Das ist die Zahl der Hochhäuser, die in den nächsten Jahren die Londoner Skyline je nach Standpunkt bereichern (Investoren/Bürgermeister Boris Johnson) oder verhunzen sollen (alle anderen).

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God’s own Bongo oder Corn on the Cob? (c) European Land

Während sich die Kulturpessimisten ob dieser Ankündigung moralisch auf die städtebauliche Apokalypse einstellen (der Evening Standard warnt vor Zuständen wie in Gotham City), ruft das Stadtmagazin Time Out zum Name Game auf: Wer findet die passendsten Spitznamen für die neuen Protzbauten? In bester Gherkin-(Gewürzgurken-) Tradition liegt momentan The Corn Cob (der Maiskolben) gut im Rennen, The Wonky Coffin (der schiefe Sarg), The Tampon und The Graphic Equalizer. Bei 236 neuen Hochhäusern können sie das Spielchen noch eine ganze Weile weiter betreiben.

Diese Aussichten kann man nun schön finden oder nicht. Für Vertreter letzterer Ansicht gibt es aber Hoffnung, oder sagen wir ein anerkanntes Schmerzmittel: die Zeit, die alte Wundheilerin. Es gilt das Gesetz: Sobald etwas älter ist als eine Generation, ist es „schon immer da gewesen“. Im sanften Licht der Gewohnheit löst sich die stahl- und stein-gewordene Hässlichkeit in mildes Wohlgefallen auf (einzige Ausnahme: Mode, da ist es umgekehrt). So wie heute Tower Bridge, Buckingham Palace und National Gallery schon immer dagewesen sind, werden Shard, Gherkin und Walkie Talkie immer schon dagewesen sein.

Selbst das scheußliche Barbican Centre haben die Londoner in ihr Herz geschlossen, das in den 70ern im damals angesagten Stil des Brutalismus (heißt wirklich so) gebaut wurde, und das nach der unmaßgeblichen Ansicht des Autors immer noch das in Beton gegossene Gegenstück zu einem Warzenschweins darstellt (welches ein Gesicht hat, das nur eine Mutter lieben kann – wie Walt Disney einst so treffend bemerkte).

So ist eins ist auf jeden Fall sicher: Die Bausünden von heute werden die architektonischen Perlen von morgen sein.

Things to do (when in London): Im Dampfmuseum

1-IMG_3674-001 Titanic-Dokus. Die vor allem, berichtet Mike stolz. Im Maschinenraum des todgeweihten Ozeanriesen habe eine Dampfmaschine vom einem ähnlichen Typ gearbeitet. Deshalb komme Number 6 in fast jeder Titanic-Dokumentation vor. Auch für Fernseh- und Spielfilme werde das Museum gern gebucht.

Wir stehen auf der obersten von drei Etagen an der stillgelegten Maschine Number 7. Mike, unser Führer durch die Welt der  Inverted Vertical Triple-Expansion Steam Engine erklärt gerade, wie an jeder Maschine rund um die Uhr mehrere Techniker herum sausten und an diversen Stellrädchen drehten, um dafür zu sorgen, dass die Räder und Kolben, Pleuel und Ventile immer gut geschmiert waren. Auf der gegenüber liegenden Seite der Halle schnauft Number 6 vor sich hin, die weltweit größte Dampfmaschine dieser Art, die noch in Betrieb ist.

1-IMG_3680-001Ein, zwei mal im Monat, an den Steaming Weekends, werfen die Enthusiasten des Museumsvereins die drei Schwungräder an, eine halbe Stunde lang immer zur vollen Stunde. Dann kann man beobachten, wie sich die mächtigen Pleuelstangen auf und nieder schieben, hören, wie es dampft und pfeifft, und dabei zuschauen, wie Herrn im weißen Overall und mit meist weißem Helm auf dem ebenso weißen Haupt geschäftig und mit ernster Mine drumherum wuseln.

Heute muss niemand mehr im Keller Kohlen schaufeln, um Number 6 ans Laufen zu bringen, heute treibt die Maschine aber auch nichts mehr an. 1-IMG_3673-001Als sie in Betrieb genommen wurde, war die Pumpstation eine lokale Pioniertat: Zum ersten mal war es für viele Londoner Haushalte möglich, sauberes – und bezahlbares – Wasser aus der Leitung zu beziehen. Von den 1920ern an pumpten die beiden Maschinen Wasser aus den großen Reservoirs unterhalb des Flughafens Heathrow im Westen nach Nordlondon. Das Wasser stammte aus der Themse, bevor sie nach London hinein floss und zur ungenießbaren Kloake verkam. Von hier aus pumpten die beiden Dampfmaschinen, zusammen mit den zwei später installierten Dampfturbinen insgesamt 68 Millionen Gallonen Wasser pro Tag (was sich in nicht mehr ganz so eindrucksvolle 310.000 Kubikmeter umrechnet – da bleiben wir lieber bei den imperialen Maßen, die machen in diesem Fall mehr her). Bis 1980 (!) taten die Maschinen ihren Dienst, und das rund um die Uhr.

Mike lässt wenig Zweifel aufkommen an seiner Geringschätzung für die Dampfturbinen amerikanischer Bauart, 1-IMG_3758die ganz unten in der Halle stehen und im neben den mächtigen, 20 Meter hoch aufragenden, 800 Tonnen schweren Dampfmaschinen vergleichsweise unscheinbar daherkommen. Für ihn ist das offenbar neumodischer Kram, längst nicht so effizient wie die großen Maschinen englischer Bauart, längst nicht so zuverlässig, und längst nicht so solide: „This here,“ sagt Mike und patscht mit der flachen Hand auf einen der drei riesigen Zylinder, „this is the real thing. Built for eternity. No flimsy stuff.“

Das mit dem no flimsy stuff wird er während unserer einstündigen Tour durch die Welt der Dampfmaschine noch mehrmals sagen. Damals habe man noch auf Qualität geachtet und sei stolz auf die eigene Ingenieurskunst gewesen, nicht nur beim Bau von solchen Großmaschinen, sondern auch bei ihrem Betrieb.

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Zum Beleg verweist er auf die Handläufe der Treppengerüste um die Maschinen. Solange die in Dauer-Betrieb waren, seien sie auf Hochglanz poliert gewesen.

Jenseits von Funktionalität habe man stets darauf geachtet, dass alles Tip Top gepflegt sei. Und es ist erstaunlich: Das Gebäude ist viel sauberer, als man das von einem Dampfmaschinenraum erwarten würde: Durch hohe Fenster fällt das Tageslicht auf blütenweiß gekachelte Wände, die Holzdecke stammt von kanadischer Eiche, und ist immer noch das Original, wie unser Führer betont.

1-IMG_3658Das liegt daran, dass vom dreckigen Kohleruß der Kesselanlage nebenan nichts hierher gedrungen ist. die notwendige Kohle zur Dampferzeugung – immerhin 13 Tonen pro Tag – wurde mit einer Schmalspur-Eisenbahn von den Transportschiffen auf der nahe gelegenen Themse hierher geschafft. Vor dem Museums-Parkplatz fährt die Original-Lokomotive von damals Besucher im Kreis herum.

1-IMG_3666-001Das soll sich irgendwann ändern: Der Förderverein will die alten Gleise instandsetzen, dann wäre die Strecke wieder ein paar Kilometer lang, anstatt 500 Meter wie jetzt, erklärt mir die Ticket-Verkäuferin. Für den Betreiber-Verein ist das natürlich eine Mammutaufgabe, denn wie das ganze Museum wird auch die Schmalspurbahn von ein paar Enthusiasten betrieben, technikbegeisterten Rentnern eben, nebst Ehefrauen, welche wiederum  irgendwann vermutlich seufzend eingesehen haben, dass sie besser auch mitmachen, wenn sie ihre Ehemänner am Wochenende zu Gesicht bekommen wollen, und nun den Kuchenverkauf in der kleinen Cafeteria organisieren.

Die ganze Veranstaltung hat den Charme des Amateurhaften: Viel Liebe und Engagement, sicher auch Sachverstand, aber wenig Geld und kaum Förderung. 7 Pfund Sterling kostet der Eintritt für Erwachsene, nochmal zwei für eine Fahrt mit der Bahn, wer’s mag. Davon muss das alles hier unterhalten werden. Die Zahl der Besucher ist überschaubar.

1-IMG_3632-001„Viele Londoner wissen überhaupt nicht, dass es uns gibt,“ erzählt Mike in einer ruhigen Minute. In unschöner Nähe führt eine viel befahrene Landstraße auf Stelzen am Museum vorbei. Nicht mal ein Hinweisschild habe man aufstellen dürfen, weil das die Autofahrer ablenke. „Die großen kommerziellen Leuchtreklamen wenige hundert Meter weiter scheinen die Autofahrer nicht abzulenken,“ bemerkt Mike sarkastisch und zuckt mit den Schultern.

„Machen Sie bloß viele Bilder und posten Sie die auf Facebook,“ hatte mir auch die eifrige Ticket-Verkäuferin nachgerufen. „Und erzählen Sie allen, wie toll es hier gewesen ist.“

Kein Problem, wird gemacht…

Kempton Park Water Treatment Works
Snakey Lane
Hanworth, Middlesex
TW13 6XH

Telefon: 01932 765 328

Reinhören: Neues von Noah

noah-movie-poster1„Noah, Was hat er gesagt?“

„Er will die Welt vernichten!“

(Musik: Wuchtiger Trommelwirbel, dramatische Hörner, unterlegt mit schicksalsschweren Streichern).

Sintflut – ein Thema, wie es Hollywood liebt: Bärtige Männer, die sich gegenseitig an die Gurgel gehen, eine Story mit Weltuntergang und Happy End (zumindest für den Helden, wenn auch nicht für den Rest der Schöpfung), und deren Copyright praktischer Weise lang abgelaufen ist. Wunder nur, dass nicht Mr. Apocalypso selbst das Ding gedreht hat, der ansonsten doch unvermeidliche Roland Emmerich.

NOAH heißt der Film, und so subtil wie der Titel dürfte das sein, was man ab heute im Kino zu sehen bekommt (zum Trailer geht’s hier). Viel Wasser wird es geben, kernige Dialoge á la „es liegt in Deinen Händen, Noah!“, und noch hölzerner als Hauptdarsteller Russel Crowe wird vermutlich nur einer sein: die Arche. Die Arche kennen wir alle seit Kindertagen: Ein großes, fensterloses Boot, in dem die Tiere untergebracht sind, mit einem Haus oben drauf, in der Noahs Familie auf hoher See das göttliche Donnerwetter abwartet. Wirklich?

Irving Finkel hat sich vorgenommen, zur Premiere des Films zu gehen. „Ich hoffe, in der ersten Reihe zu sitzen. Vielleicht werde ich in der Mitte des Films aufstehen müssen, das Pocorn vom Anzug bürsten und mich ans Publikum wenden: Sorry, aber da ist etwas, das ich Ihnen sagen muss…“

Irving Finkels Augen funkeln vergnügt hinter seiner Harry Potter-Brille. Der Altertumskundler sieht selbst aus wie einem Hollywoodfilm entsprungen: Mit seinen schlohweißen langen Haaren und dem ebenso langen Bart könnte er wahlweise auf der Besetzungsliste von Die Zehn Gebote oder Jäger des verlorenen Schatzes stehen.

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(c) 2014 Martin Herzog

So sitzt er in seinem dunklen, mit Büchern und Zeitschriften vollgestopften Büro irgendwo in den Eingeweiden des British Museum, und hält eine Tontafel in der Hand. Die ist nicht eben eindruck-heischend: klein, rotbraun, von Form und Größe erstaunlich ähnlich einem modernen Smartphone. „Das ist ein gutes Konzept, denn es passt bequem in die Hand, wie ein Mobiltelefon. Das ist kein Zufall, es ist die ideale Größe, um darauf zu schreiben und zu lesen.“

Wie im Hollywoodfilm kam auch die Tontafel ans Tageslicht: Ein Besucher sei eines Tages mit einer großen Tüte im British Museum erschienen, aus der allerlei zum Vorschein kam. Das sei an sich nichts Ungewöhnliches, das komme öfter mal vor. Ungewöhnlich aber war die kleine, in enger Keilschrift beschriebene Tontafel: „Ich habe die Ersten Worte gelesen: ‚Wand Wand, Schilfwand‘, und ich hab’s fast fallen lassen, denn das ist das untrügliche Zeichen für die Sintflut-Geschichte, die berühmteste Rede in Keilschrift. Jeder liest das als Student: Der Moment, als es durch die Wand flüstert, um Athrahasis die Nachricht zu bringen. Ich sagte nur: Oh Gott! Das ist ein Teil der Sintflut-Story! Das muss ich lesen!“

Athrahasis, nicht Noah, heißt der Held im babylonischen Gilgamesch-Epos. Den hatte Mitte des 19. Jahrhunderts George Smith entziffert, ein früher Vorgänger von Irving Finkel im British Museum. Seitdem war klar, dass die biblische Sintflut-Geschichte auf diesen viel älteren Mythos zurück geht.

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(c) 2014 Martin Herzog

Finkels Tafel aber ist noch älter als die bisher bekannten. Und zum ersten mal ist dort davon die Rede, dass die Tiere in Paaren auf die Arche geführt werden sollen, wie Finkel in mühsamer Detektivarbeit herausfand. Mit dem Finger fährt er über die Zeilen und zeigt mir die Stelle:

„Aber die wilden Tiere aus der Steppe… da bricht es ab… dies heißt ’shanah‘: in Paaren, ‚eleppa‘: ins Boot gingen sie… und dann muss es heißen: an Bord. Hier sind die Zeichen so beschädigt, dass man nichts lesen kann. Das ist sehr frustrierend und jeder Assyrologe wird es Dir bestätigen: Je interessanter der Text wird, desto kaputter ist er.“

Die spektakulärste Entdeckung aber machte er auf der Kehrseite der Tafel: Dort wird der Bau der Arche beschrieben. Die Grundfläche ist nicht lang gezogen, wie ein normales Boot, sondern kreisförmig – die Arche ist rund!

In kleiner Form werden im arabischen Raum und bis Indien solche Rundboote seit Jahrtausenden von Fischern benutzt. Für Irving Finkel ist die Vorstellung eines Rundbootes für Bewohner des Zweistromlandes sehr naheliegend:

„Wenn man ein Boot braucht, das dieses Wetter übersteht – die Wellen, den Wind, den Regen und Sturm, ohne zu sinken – welche Art Boot müsste es sein? Das Rundboot mit seiner Donut-artigen Form – was auch immer passiert, es dreht sich vielleicht im Kreis herum und herum, aber es würde nicht sinken. Deshalb war es für Fluss-Anrainer nur logisch anzunehmen, dass die Arche ein sehr großes Rundboot wäre.“

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(c) Wikipedia

Die Tafel in seinem Büro ist eine exakte Arbeits-Kopie, das Original liegt in Raum 55, in der Babylon-Ausstellung. Jedes Mal, wenn er sie sehe, schlage sein Herz ein bißchen schneller, erzählt er auf dem Weg dorthin. Kein Wunder, er hat mehrere Jahre damit zugebracht, sie zu entziffern.

Aus Finkels Arbeit ist in ein Buch* entstanden über die Entzifferung der kleinen Tontafel, das ihm große Aufmerksamkeit beschert, und dafür gesorgt hat, dass der “stellvertretende Kurator für den Mittleren Osten” inzwischen zum Popstar des British Museum aufgestiegen ist. Kaum sind wir an der Vitrine angelangt, muss Irving für Besucherfotos posieren. Also lächelt der Altertumsforscher scheu in die Kamera.

„Ich lese gerade das Buch,“ verrät mir der fotografierende Finkel-Fan, „es ist faszinierend, dass die Arche nicht die Form hat, wie wir sie uns immer vorgestellt haben. Ich kann kaum erwarten, es zu Ende zu lesen.“

Denn nicht nur, dass die Arche rund war, steht auf der Tafel. In penibler Do-it-yourself-Detailgenauigkeit gibt sie eine Bauanleitung: Grundlage ist ein langes, in Schneckenform neben- und übereinandergelegtes Seil, das anschließend durch Spanten gestützt und durch Bitumen wasserdicht gemacht wird.

„Da wir die genauen Maße haben, kann Ich Ihnen verraten, dass der Grundriss 3600 Quadratmeter beträgt, etwa ein halbes Fußballfeld. Die Wände sind 6 Meter hoch und das Seil würde in gerader Linie von London bis Edinburgh reichen, ziemlich weit. Das Mysteriöse daran ist, dass die benötigte Seil, um ein Boot von dieser Form und Größe zu bauen – korrekt ist.“

the-ark-before-noah_544Finkel hat es von einem befreundeten Mathematiker nachrechnen lassen: Bis auf ein Prozent stimmen die Angaben überein mit der tatsächlich benötigten Materialmenge, wollte man die Arche nachbauen – was ihm ein Rätsel aufgibt: Warum in aller Welt wollten die Babylonier das bis auf die dritte Steller hinter dem Komma genau wissen? In der Sintflutgeschichte geht es schließlich um die ganz großen Dinge: Das Ende der Welt, die Strafe Gottes, ein Mann, der seine Familie in einem Boot rettet und sämtliche Tierarten gleich mit. Großes Drama, menschliche Tragödien – braucht es da eine exakte Montage-Anleitung für’s Rettungsboot?  Finkels Antwort ist ebenso verblüffend wie prosaisch:

„Ich stelle mir vor, wie eine Gruppe von Fischern einem Geschichtenerzähler zuhört. Als es um den Bau der Arche geht, fragt einer: ‚Wie groß war die Arche, dass alle Tierarten darauf passten?‘ Und der Erzähler sagt: ‚Es war das größte Schiff, das es je gab.‘ Ein anderer fragt: ‚Wie groß, und aus welchem Material war sie gemacht?‘ Und da musste sich der Geschichtenerzähler etwas einfallen lassen. Das waren Menschen, die mit Wasser, mit Booten lebten; für sie waren solche Details interessant und wichtig.“

Die Tafel ist also so etwas wie die Auto-Motor-Sport des Altertums, und das Publikum ein Haufen antiker Technik-Nerds? „Ich fürchte, genauso ist es,“ grinst Finkel. Was mal wieder zeigt, dass die Menschen zu anderen Zeiten so anders auch wieder nicht waren.

Oder ist der exakte Bauplan am Ende der Beleg dafür, dass es die Arche wirklich gegeben hat? Nicht wirklich: Computer-Simulationen haben ergeben, dass ein Rundboot dieser Größe mit diesen Mitteln aus statischen Gründen nicht machbar wäre. Diese Arche kann es so niemals gegeben haben. Aber das sei nicht wichtig, meint Altertumsforscher Finkel:

„Es kommt nicht darauf an, ob eine Arche, oder die Arche, jemals existiert hat. Es geht um die literarische Kraft und die Grundwahrheit , dass all die Strukturen, die wir haben, all die Städte, die Macht, all diese Dinge, die wir für so furchtbar wichtig halten, durch die Naturgewalten in einem einzigen Moment ausgelöscht werden können. Das sollte man nie vergessen, denn in der modernen Weltversuchen die Menschen dieses Gefühl ebenso zu unterdrücken, wie in Babylonien.“

Der Beitrag Neues von Noah ist am 3. April 2014 bei Leonardo auf WDR 5 zu hören (Beginn: 16:05 Uhr)

*Finkel, Irving: The Ark before Noah – decoding the story of the flood, Hodder & Stoughton Ldt, London2014