Das ist das Ende!

Nein, ich mag keine Zeitung mehr lesen. Ich will den Fernseher nicht anmachen. Und online? Puhh… – Jimmy-Savile-Skandal, BBC-Skandal, Murdoch-Skandal, Bankenkrise, Eurokrise, US-Wahlen, Pasty Tax, Granny Tax, die Royals wahlweise Oben oder Unten Ohne. Und Olympia, immer wieder Olympia!

Collage_BestOf2012Das Jahr wird alt. Und wer alt wird, neigt dazu, zurück zu blicken auf das was war. Das Alter bringt es mit sich, dass es dabei reichlich sentimental zugeht. Ist offenbar ein Naturgesetz. Seit Wochen sind sämtliche Sendungen und Seiten zugebappt mit all dem, wovon wir in den vergangenen zwölf Monaten schon zu viel hatten – aber offenbar nicht genug.

Jedenfalls überbieten sich die hiesigen Gazetten jeder Couleur mit Jahres-Rückblicken und -Hitlisten: die 10 größten Hits, die 10 schlechtesten Kinofilme, die 5 besten Hitlistenübersichten über Hitlisten. Time Out London kürt die 10 übelsten Weihnachtslieder (Nummer 1: Mary’s Boychild von Boney M.), die Times erinnert an die größten Skandale des Jahres, wobei wenig überraschend die Londoner Groß-Banken den Löwenanteil haben (Barclays und die Libor-Manipulation, HSBC und die Geldwäsche, RBS und ihr kompletter Computer-Meltdown).

Dann noch die Gewinner und Verlierer des Jahres, Mann des Jahres, Frau des Jahres, Jugendlicher des Jahres (kein Scherz: Die Times kürte eine junge Afghanin zur „Young Person of the Year„), und – natürlich – Sportler des Jahres. Das scheint sowieso das Wichtigste im Jahr 2012 gewesen zu sein – auf allem, was bedruckt werden kann, und auf allen Kanälen: ein Meer aus Blau-Weiß-Rot, zum Sieg gereckte Arme, in Händen vergrabene Gesichter, ergriffene Blicke, Jubel, Verzweiflung, es wird geheult und geschluchzt, was die Tränendrüse hergibt.

Bisweilen beschleicht mich der Eindruck, die Kollegen in den Zeitungs- und Fernsehredaktionen haben sich im sommerlichen Olympia-Rausch überkauft, und müssen jetzt schnell noch alles an Bildmaterial raushauen, was sie auf dem Archiv-Server zusammen kehren können, um damit ihre Souvenir-Editions vollzustopfen.

Und wenn das alles noch nicht reicht, dann gibt es ja immer noch unzählige ungesendete Bilder vom Queen-Jubiläum, dazu Lizzys Weihnachtsbotschaft, die sich den Briten gegenüber demütig gibt, und das auch noch in 3D, zum ersten Mal! So nah war die Queen ihrem Volk noch nie!

So, was haben wir noch? Ach ja, das Wetter. Das Dauer-Gemopper über selbiges ist ja seit Jahrmillionen genetisch im Engländer verankert, und dient kommunikationstechnisch als Rettungsanker für sämtliche Alltagssituationen, die in peinliches Schweigen zu münden drohen – also alle. Times_wettest_year_in_historyIn diesem Jahr aber hatte der Inselbewohner so viel Grund zum Jammern wie noch nie. Das nasseste Jahr seit Menschengedenken (oder zumindest seit 100 Jahren: 1911 gab zum ersten Mal offizielle Daten. Aber das klingt natürlich nicht so spektakulär wie „seit Beginn der Wetteraufzeichnungen“). Das vermeldet die Times. Überraschender Weise aber nicht im Ton ewiger Verdrossenheit, sondern fast triumphierend und ein wenig aufgeregt. Denn der Negativrekord gilt nur, wenn es in den letzten Tagen des Jahres so weiter regnet wie bisher. Dann übertrumpfen wir sogar das Hundswetter im Jahr 2000.

OLYMPUS DIGITAL CAMERANa klar, das schaffen wir leicht, denke ich mit Blick aus dem Fenster, und wundere mich über diese Briten! Nörgelei hin oder her – noch aus dem miesesten Sommer machen sie ein Wettrennen. Und auf Wettrennen kann man Wetten abschließen. Smashing! Im Frühjahr galt wegen Wasserknappheit noch der Hosepipe Ban, also das staatliche Verbot, seinen Rasen zu wässern. Hätte man da beim Buchmacher William Hill 100 Pfund darauf gewettet, dass dies das nasseste Jahr in der Geschichte des Wetters wird, man wäre um 10.000 Pfund reicher.

Je nun, genug geschaut auf Vergangenes. Die Jahresendberieselung ist morgen überstanden und dann heißt es: Blick voraus, auf das, was kommt! Da hätten wir im nächsten Jahr das 150-jährige Jubiläum der englisches Fußballiga und 200 Jahre Jane Austens „Sinn und Sinnlichkeit“, um nur zwei zu nennen. Wird natürlich alles mächtig groß gefeiert werden. Ach, und Kate wird einen Thronfolger zur Welt bringen, egal, ob es Junge oder Mädchen wird. Schon am Tag, als ihre Schwangerschaft vorzeitig bekannt wurde, haben die Buchmacher Wetten darauf angenommen, wie es denn heißen wird: James, William, Elizabeth, Victoria, oder doch Diana? Da werden wir mal wieder senden, bloggen und drucken, was das Zeug hält… – hoffentlich haben wir für die Silvesterfeier genug Alkohol. Und der Fernseher bleibt aus.

One step beyond – It’s still ultimate Madness

Madness-Gig1„No way!“ stöhnt eine Mädchenstimme hinter uns. Ein Vater um die 50 drückt sich an uns vorbei Richtung Bühne, dorthin, wo getanzt wird, oder -nun ja – rhythmische Bewegungen zur Musik produziert werden. Im Schlepptau hat er seine beiden halbwüchsigen Töchter, die ihn nur noch peinlich finden. Für die anderen viereinhalb tausend Zuschauer im Brighton Centre aber gibt es bei Baggy Trousers kein Halten mehr. It must be love noch hinterher, und das unvermeidliche Our House, und die Stimmung ist bestens in Englands südlichstem Nordsee-Strandbad. Und das mitten am Nachmittag!

Weil das abendliche Konzert innerhalb kürzester Zeit ausverkauft war, gibt es für uns die Kindervorstellung: Matinee, Einlass 14:30, Beginn 15:30, pünktlich, denn man wird  nicht jünger, und die Herren müssen ja noch ein Abendkonzert bestreiten. Seit über 35 Jahren sind sie jetzt im Geschäft und treten dem gereiften Alter entsprechend in dunklem Anzug und Krawatte auf (die Sonnenbrille gehört aber immer noch dazu). Die früher üblichen, wilden Tanzeinlagen beschränken sich mittlerweile auch eher auf Andeutungen. Das kommt dem Publikum entgegen, das früher gängige, Pogueing-artige Ska-Gehopse reduziert sich bei den meisten Mitgealterten auf fröhliches Fußwippen und Kopfnicken.

Das hätten sich Frontmann Suggs und seine Mannen nicht träumen lassen, dass sie über 35 Jahre nach der Gründung immer noch auf der Bühne wiederfinden würden. Von der englischen Presse werden sie gern als englischste aller englischen Bands bezeichnet, und wer bin ich, da zu widersprechen? So englisch, dass sie nicht nur bei der olympischen Abschlussfeier aufgespielt haben, sondern sogar der Queen aufs Dach steigen durften: Oben vom Buckingham Palace aus gratulierten sie der alten Dame beim Jubiläumskonzert mit „Our House“ zum Diamantenen. Vom britischen Arbeiter-Pop zur inoffiziellen National-Kapelle, welch eine Karriere!

Madness-Gig2In einem Gespräch mit dem Sunday Times Magazine plauderte Sänger Suggs kürzlich über die wilden Jahre der Ska-Band und berichtete vom Interview mit einem jungen Musik-Journalisten namens Neil Tennant. Der fragte ihn damals, wie lang er gedenke, mit Madness zu touren. Suggs antwortete natürlich, dass er keinesfalls vorhabe, als alter Mann – also so mit 30 – noch durch die Lande zu touren. In den Kulissen des Olympia-Stadiums habe er jetzt Neil wieder getroffen, als sie auf ihren Auftritt warteten: Tennant trug eine Art Anzug aus Alufolie und eine Verkehrs-Pylone auf dem Kopf – als Sänger der Pet Shop Boys. Und er habe gedacht: „Schau mal an, schön, dass alle noch hier sind.“

Ja, sie sind noch da, und arbeiten sich langsam Richtung Rentenalter vor. Natürlich ist der nachmittägliche Auftritt in Brighton vor allem eine Revue ihrer 80er Hits und Schätzchen (dass sie gerade eine neue Platte herausgebracht haben? Ja, gut, sicher, drei, vier Stücke spielen sie auch davon). Aber auch wenn sich die Band-Mitglieder, ähnlich wie in einer Ehe, nach 35 Jahren jenseits von Bühne und Proberaum wohl nicht mehr allzu viel mitzuteilen haben – an ihrem gemeinsamen Arbeitsplatz  verrichtete die 10-köpfige Kapelle gut gelaunt ihr Tagewerk, und ihnen dabei zuzusehen (und zu hören) war ein Riesenspaß.

Nur ein bisserl kurz war’s. Nach einer Stunde Zwanzig und drei Zugaben räumen sie endgültig die Bühne. Da greift wohl die Altersteilzeit, denn wie gesagt: Am Abend müssen sie ja noch mal ran…

Wort der Woche: Once in a lifetime

Wenn über Veranstaltungen in der Größenordnung der Olympischen Spiele zu berichten ist, dann fordert ein ehernes (und weltweit gültiges) Journalisten-Gesetz, dass auch die Zaungäste zu Wort kommen müssen, normale Menschen, die weder als VIPs geladen sind, noch gewillt, hunderte Pfund für ein Ticket zu bezahlen, die aber trotzdem diese tolle Atmosphäre erleben wollen, von der die komischen Leute im Fernsehen immer so weihevoll schwärmen.

Meist wird dann der Praktikant oder Volontär raus gejagt, um die Meinung des Mannes und der Frau von der Straße einzufangen, oder, wie in diesem Fall, von einer der Liegewiesen rund um das Olympia-Stadion. „Machma VoxPop“, sagt der Redakteur in diesem Fall mit einer scheuchenden Handbewegung, und unterstreicht damit nicht nur sein Wissen im Bereich journalistisches Fachvokabular, sondern deutet seine höhere Schulbildung gleich mit an: Vox populi, Volkes Stimme also, möge doch bitte auch einmal zu Wort kommen. Was der Redakteur nicht sagt: Komm mir bloß nicht zurück ohne den Satz. Aber das braucht er auch nicht zu sagen, denn das Volk weiß, was es unserem Redakteur schuldig ist, das Volk kennt den Satz, hat ihn schließlich bei tausend anderen Gelegenheiten genau so aus der Kiste quillen gehört.

So braucht der Fernsehlehrling nicht lange suchen, bis ihm irgend jemand den Satz in die Tüte murmelt/schreit/heuchelt: Dass es eine einmalige Gelegenheit sei natürlich, die man sich nicht entgehen lassen dürfe: „This is a once in a lifetime opportunity!“ (wahlweise auch: experience).

Die englische Variante von „Das gibt‘s nur einmal, das kommt nicht wieder“ hat sich bei Zaungästen zu allen Gelegenheiten als griffbereite Standard-Antwort eingebürgert, zuletzt anlässlich der 24-stündigen Dauer-Berieselung zum Jubiläum der Queen, und nun jeden Tag dutzendfach auf allen Olympia-Kanälen.

Bei der Bootsparade: „There have never been as many boats on the river. Such a pageant is a once in a lifetime opportunity!“

Beim Jubiläums-Konzert: „How many people have come to witness a diamond jubilee? It‘s a once in a lifetime experience!“

Beim olympischen Fackellauf: „The torch will only pass through Land‘s End this one single time. It‘s a…“

Der Ausruf hat sich in vielerlei Hinsicht bewährt: Erstens besteht er – anders als „toll“, „super“ respektive „great“ oder „marvellous“ – aus mehreren sinnvoll zusammenhängenden Wörtern und kann dennoch meist im Vollrausch noch verständlich hervorgebracht werden, zweitens bietet er gerade dem Briten genügend Emotion, um als Fernsehantwort tauglich zu sein, ohne gleich in extatische Gefühlswallungen verfallen zu müssen, was drittens den fragenden Quälgeist vom Fernsehen glücklich macht, weil er viertens weiß, dass er sich mit dieser Antwort dem Redakteur wieder unter die Augen trauen darf.

Fünftens ist es eine wunderbare Ausrede sich selbst und anderen gegenüber: Anderen, weil man sich mit dieser Auskunft, wie früher in der Mittelstufe, einen praktischen Entschuldigungszettel schreibt: Mein Sohn konnte heute nicht an der Schulwanderung teilnehmen, weil der Zirkus in der Stadt ist, und dieses einmalige Erlebnis soll er nicht verpassen müssen. Mit freundlichen Grüßen. Oder so. Dafür hat jeder Verständnis, deutlich mehr jedenfalls, als würde man sagen: Keinen Bock auf Arbeit gehabt, mein Buch habe ich gerade ausgelesen, und meine Socken sind schon alle sortiert.

Sich selbst gegenüber ist es hilfreich, weil es die Rechtfertigung dafür bietet, dass man zu unmenschlicher Zeit morgens aufgestanden ist, sich affige Klamotten in Nationalfarben angezogen und stinkende Schminke ins Gesicht geschmiert hat, stundenlang im Regen ausharrt, darauf wartet, dass es endlich los geht, und die Toiletten ewig weit weg oder versifft sind. Es bietet Trost dafür, dass man selbst nur Zaungast ist und auch auf Zehenspitzen nichts sieht. Macht alles nichts, denn es ist ja was? A once in a lifetime…

Natürlich ist das alles herrlicher Unsinn. Das Leben ist voll von once in a lifetime experiences, und die Tatsache allein ist auch kein Qualitätsmerkmal. Der 40. Geburtstag, ein Blinddarmdurchbruch und selbst der Tod sind jeweils einmalige Erlebnisse (für die meisten von uns). Das macht es nicht unbedingt erfreulicher. Aber der Satz passt halt so schön auf alles und jede Gelegenheit: Olympia und Thronjubiläum, Sonnenfinsternis und Einschulung, Rockfestival und Prinzenproklamation.

In der Häufung, mit der dem Zuschauer dieser Jubelsatz in letzter Zeit aus dem Fernseher entgegen springt, erinnert er genau daran: an die unvermeidliche Prinzenrede im rheinischen Karneval, bei der der Teilzeit-Monarch ausruft, vom Tage seiner Inthronisation an bis zum Aschermittwoch an 134 Tagen hintereinander, bei jeder der täglich 8 Prunksitzungen: „Dat ess dr schönnste Daach in meinem Leben!“ Worauf der echte kölsche Karnevals-Jeck natürlich kontert: „Ja aber wenn et doch so ess!“ – Da hat er Recht, der Jeck. Und so kommt dann alles wieder zusammen: Wie im Fernsehen liegt der Sinn der Karnevals ja bekanntlich in gesteigerter Sinnlosigkeit. Und das ist jede Session wieder ein einmaliges Erlebnis…

Reinhören: RBB Radioeins über „Mind the Gap“

Für jeden Blogger ist es schön zu wissen, dass man in der Welt wahrgenommen wird, und man nicht nur stumpf vor sich hinbloggt. Und siehe da: Mind the Gap! schlägt hohe Wellen – in diesem Fall Radiowellen.

RBB Radio Eins sendet während der Olympischen Spiele täglich vier Stunden aus London.

Das Studio ist schick untergebracht auf dem „Traumschiff“ MS Deutschland, das für die Dauer des Spektakel in den Docklands vor Anker liegt.

Dorthin werde ich mich nun verfügen, um in der Live-Sendung vom Sonnendeck des Dampfers ein wenig über das Leben als Deutscher in London im Allgemeinen zu erzählen, und über diesen Blog im Besonderen. Schauen wir mal, was genau sie da wissen wollen… Die Sendung jedenfalls startet um 16 Uhr deutscher Zeit. Zum Live-Stream geht es hier.

They still know how to throw a party!

Was hatten die Briten geunkt: Über Olympia im Allgemeinen, und die Eröffnungsfeier im Besonderen. Kübelweise Spott ergoss sich über Regisseur Danny Boyle (Trainspotting, Slumdog Millionaire), als seine Pläne bekannt wurden, im Olympia-Stadion nicht nur ein englisches Dorf aufzubauen, sondern gleich noch Schafe, Gänse und Kühe dazu zu stellen. Was sollte das werden: Tolkiens Auenland? Teletubbies? Und dann auch noch künstlicher Regen aus künstlichen Wolken – als hätten wir nicht genug vom echten!

Und tatsächlich: Als der Kinderchor anfing zu singen, und Bauern mit Ochsenkarren über die lieblich geschwungene Kunstlandschaft schweiften, konnte einem Übles schwanen. Würde die Eröffnungsfeier vielleicht in klebriger Verklärung der eigenen Geschichte versinken?

Andernorts wäre das vielleicht so gekommen, nicht in London. Spätestens als die Industrie-Schornsteine aus dem Boden wachsen und verrußte Arbeiter glühenden Stahl zu einem gigantischen Ring schmieden, ist klar, dass die Briten die Kurve kriegen: Die fünf Funken sprühenden olympischen Ringe, schwebend über der Mitte des Stadions, sind das grandiose Finale der Eröffnungssequenz. Große Erleichterung bei den Kommentatoren (und beim geneigten Zuschauer).

Danach fröhlich orchestriertes Durcheinander: Kinder in Krankenhausbetten, Mary Poppins dutzendfach aus der Luft einschwebend, Lord Voldemort als Pink Floyd-mäßig aufgeblasener Puppenbösewicht, ein gewohnt alberner Mister Bean-Auftritt mit dem hoch seriösen London Philharmonic Orchestra, durch die jahrzehnte tanzende Teenager (angereichert durch irgendeine konfuse Fotoromanstory: Mädchen verliert Handy, Junge bringt es ihr zurück, Liebe, Happy End. Je nun…).

Noch vor dem Einmarsch der Nationalteams steht fest, dass aufgeht, was die Briten sich vorgenommen haben, der Welt zu zeigen: Cool Britannia weiß immer noch, wie man eine Party schmeißt! Eine grandiose Lichtregie verwandelt die Sportstätte in eine riesige Las-Vegas-Bühne und das unvermeidliche Feuerwerk ist dramaturgisch während der fast vier Stunden immer wieder so gut eingesetzt, dass das pyrotechnische Finale am Ende nicht wirkt wie der übliche angestaubte Weckruf für all diejenigen, die während der Feier weggenickt sind. Dafür gibt es auch keinen Grund: die Briten feiern sich, und sie lassen die Welt mitfeiern.

Die einzige im Stadion, die keinen Spaß hat, ist offenbar die Queen: Lustlos liest sie die Eröffnungsformel vom Blatt ab. Wenn sie zwischendurch im Bild ist, knibbelt sie gelangweilt an ihren Fingernägeln. Kein Lächeln, nirgends. Und das nach diesem Auftritt per Fallschirmabsprung an der Seite von Daniel James Craig Bond (man weiß gar nicht so genau, wer da wem die Ehre gab)! Viel cooler kann man den Auftritt eines Staatsoberhauptes kaum inszenieren.

Ansonsten: überdrehte Freude, und als Herr Beckham im Schnellboot über die Themse heran rauscht und sieben Nachwuchs-Athleten das sodann (Symbolik, Symbolik!) zusammenwachsende Feuer der Olympischen Flamme entfachen, kennen auch die BBC-Kommentatoren kein Halten mehr: Vom Stolz, britisch zu sein, fabulieren sie da, und was die Klischee-Kiste sonst noch her gibt. Zum Glück  ist die Sendezeit vorbei, bevor sie sich in noch mehr in jener Form von überzuckertem Pathos ergehen können, über die sie sich bei den Vettern auf der anderen Seite des Atlantiks so gern lustig machen.

Das allerdings ist etwas, das schon bei den Feiern zum diamantenen Dienstjubiläum der Queen auffiel, etwas, das so völlig untypisch ist für die sonst so Pathos-resistenten Briten: eine Tendenz zu heiligem Ernst im Umgang mit nationalen Symbolen wie ihrem Staatsoberhaupt. Gehören der Hang zu Häme, Spott und Ironie normalerweise zur Grundausstattung jedes Engländers, wird sonst das sich Lustig machen über alles und jeden (vorzugsweise sich selbst) durchaus auf olympischen Wettkampfniveau als Volkssport betrieben – beim Jubiläum und streckenweise auch bei der Eröffnungsfeier scheint dieser Grundzug des britischen Charakters narkotisiert.

Als Lord Coe, der Häuptling der Olympianer, gerührt davon schwurbelt, dass er noch nie so stolz war, Brite zu sein, muss der Durchschnittsengländer unruhig auf seinem Sofa hin und her gerutscht sein. Oder doch nicht? Nicht, dass in diesem Moment kein Pathos erlaubt wäre, überall auf der Welt wäre dem so. Nur scheint es so untypisch für die dieses Volk, dem alle Gefühlsduslei verdächtig ist, und das auf solch emotionale Wallung in der Regel spöttisch bis allergisch reagiert.

In Zeiten anhaltender Rezession und Identitätskrise seien die Olympischen Spiele, wie schon das Thronjubiläum zuvor, ein Mittel der Selbstversicherung für die Briten – das schreiben die Kommentatoren jetzt gern. Schon vor zwei Monaten war allenthalben in den Medien zu hören: The British still know how to throw a party! Stimmt, das wissen sie noch immer, wie gestern Abend zu besichtigen war. Aber in dem scheinbar selbstsicheren Ausruf ist immer auch ein Fragezeichen zu hören. Die selbst verordneten Medikamente dagegen heißen Feiern, Feiern, Feiern.

Möglich, dass ein gewisser Hang zum Pathos zu den Nebenwirkungen dieser Selbstmedikation gehört. Die Briten haben eine robuste Psyche. Man darf wohl darauf vertrauen, dass sie nach Absetzen der täglichen Dosis keine bleibenden Schäden zurückbehalten.

London freut sich auf die Olympischen Spiele

Gesehen in Southwark zwischen Borough Market und Tate Modern (vermutlich keine Auftragsarbeit von Herrn Romney…)

Olympische Kriegs-Spiele – Die Nervosität steigt

Kreisende Helikopter, Jagdflugzeuge mit Abschussbefehl, Scharfschützen auf Dächern von Wohnhäusern, daneben Luftabwehr-Raketen, sowie einige zehntausend Sicherheitskräfte am Boden: Polizisten, Soldaten, private Dienste. Die Nervosität steigt bei Politik, Behörden, Organisatoren und Medien – und auch bei den Sicherheitskräften. Von der typischen „stiff upper Lip“ der Briten, ihrer stoischen Ruhe im Angesicht von drohendem Unbill, ist zwei Wochen vor der Eröffnungsfeier nicht viel zu spüren. Der Grund dafür scheint ein sieben Jahre altes Trauma zu sein.

Geschafft: Heathrow, Zollkontrolle – die Aussicht auf zweistündige Warteschlangen bei der Einreise hatte bei mir schon vorsorglich für Stressflecken gesorgt, auch wenn die Behörden im Vorfeld beteuert hatten, dass sich das Chaos vom Thronjubiläum nicht wiederholen würde, als zehntausende Einreisewillige stundenlang auf die Abfertigung warten mussten. Heute ist Hauptanreisetag für die Olympischen Spiele, die Organisatoren erwarten Athleten, Funktionäre, Medienvolk.

Doch als ich mich in den Warteschlangen-Slalom vor den Zoll-Büdchen einreihe, ist die Lage entspannt. Ich bin schneller durch die Abfertigung als üblich – natürlich, weil viel mehr Beamte im Einsatz sind als sonst (außerdem ist man jüngst auf den Trichter gekommen, die Dienstschichten der Zollbeamten mit den Ankunftszeiten des größten 747- und A380-Ansturms zu synchronisieren. Wer ihnen wohl diesen Tipp gegeben hat?)

Trotzdem ist die Stimmung angespannt, eine Unwohlsein ist zu verspüren. Der Ton der Meldungen in den vergangenen Tagen und Wochen spiegelt dieses diffuse, ungute Gefühl wieder:

  • Vor zwei Wochen tödliche Messerstecherei in einer Shopping Mall in Ost-London, nur wenige Meter von dem Ort entfernt, wo gerade Deligierte das Olympische Dorf besuchen. Düstere Ahnung machen die Runde in den Kommentar-Spalten;
  • Anfang Juli (6.7., Evening Standard): Ein Reisebus wird auf der Autobahn M6 auf offener Strecke angehalten und von schwer bewaffneten Polizeieinheiten gestürmt. Die Passagiere werden „at gunpoint“ (Gewehr im Anschlag) im Gänsemarsch hinausgeführt, müssen sich auf der Fahrbahn mit deutlichem Abstand aufgereiht hinsetzen und dürfen nicht miteinander sprechen, während sie sich von Sprengstoffspürhunden beschnüffeln lassen müssen. Vier Stunden lang werden sie so im Guantanamo-Stil festgehalten, niemand teilt ihnen den Grund mit für die Freiheitsberaubung. Derweil wird die Stelle im Umkreis von mehreren Kilometern abgeriegelt. Wie sich schnell herausstellt, hat eine elektronische Zigarette, also ein Kippen-Ersatz, den Alarm ausgelöst. Sicherheitsfachleute geben sich überrascht: Darüber, dass so ein Fehlalarm erst jetzt vorkommt und nicht schon viel früher passiert ist. Mit weiteren müsse aber gerechnet werden, heißt es. Ansonsten scheint sich niemand aufzuregen;
  • Am 7. Juli (Sunday Telegraph) wird in der Nähe des Olympia-Geländes ein Terrorverdächtiger festgenommen, der Geheimdienst MI5 vermutet einen Selbstmordattentäter. Insgesamt werden in dieser Woche 14 Menschen wegen Terrorverdachts verhaftet. Was mit ihnen geschieht, bleibt im Unklaren, auch was ihnen konkret vorgeworfen wird;
  • Mittwoch vergangener Woche (11.7., BBC, Evening Standard) stellt sich heraus: Der private Sicherheitsdienst G4S sieht sich nicht in der Lage, die vertraglich zugesicherten 10.000 Sicherheits-Leute zu stellen, angeblich aufgrund von Trainings-Engpässen. Daraufhin verkündet die britische Innenministerin Theresa May zähneknirschend, dass zusätzlich zu den 13.500 bereits geplanten Soldaten weitere 3.500 hinzugezogen werden, um an allen wichtigen Punkten Personen und Taschen zu kontrollieren und für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu sorgen. Die meisten Soldaten werden aus Deutschland herangezogen, kommen gerade aus Afghanistan oder sind auf dem Weg dorthin. Aufruhr in Medien Parlament über die Amateurhaftigkeit, mit einer solchen Nachricht kurz vor Knapp rauszurücken. Die Forderung wird laut, dass „Köpfe rollen müssen“, nicht nur beim Sicherheitsdienst, denn Konventionalstrafen bei Nichteinhalten des Vertrages sind nicht vorgesehen…;
  • Freitag, 13. Juli (Metro): Ein Insider der Pleite-Sicherheitsfirma, ein so genannter Whistleblower, schätzt das Risiko eines Attentats auf die Olympischen Spielstätten auf 50 Prozent ein. Die bislang eingestellten Sicherheitskräfte seien schlecht ausgebildet, und bei Test mit versteckten Messern, Bombenattrappen, Schuss- und Schlagwaffen komplett durchgefallen;
  • unterdessen gehen die militärischen Vorbereitungen für die Olympischen Kriegs-Spiele weiter, der größte Militäraufmarsch in London, seit dem Zweiten Weltkrieg: Auf der Themse liegen mehrere Schiffe der Royal Navy in Bereitschaft vor Anker, darunter ein Hubschrauber-Träger: Tiger-Kampfhubschrauber werden rund um die Uhr über den neuralgischen Punkten kreisen, während unten die „Jugend der Welt“ zusammen kommt, ebenso wie je zwei TyphoonEurofighter. Im Falle eines Falles haben sie bereits jetzt den Befehl, auch zivile Flugzeuge abzuschießen. Auf den Dächern von mehreren hochgelegenen privaten Wohnhäusern werden zur Zeit Batterien von Boden-Luftraketen installiert – trotz des massiven Protestes von Anwohnern. Wie teuer die Sicherheit der Olympischen Spiele wird, wird sich nie genau beziffern lassen. Viele Posten sind in allgemeinen Militär- und Polizeibudgets versteckt. Eins ist aber jetzt schon klar: Es werden die aufwändigsten und teuersten Spiele aller Zeiten in dieser Hinsicht.

Überzogen? Genau richtig? Nicht genug? Wie realistisch das alles ist, wie notwendig all diese Sicherheitsmaßnahmen, können wohl nur wenige beurteilen – ich gehöre nicht dazu, und ich fürchte, auch die, die es einschätzen können sollten, haben nur eine relativ vage Vorstellung vom tatsächlichen Risiko. Was aber ist überzogene Panikmache, was ist gezielte Desinformation, um potentielle Terroristen abzuschrecken, was sind zu Fakten aufgeblasene Geheimdiensthinweise? Auch weiß ich nicht, wie das Ausmaß der Sicherheitsmaßnahmen im Vergleich zu Peking und Athen zu sehen ist (zumindest bei Peking darf man aber vermuten, dass vieles einfach nicht bekannt wurde). Wie würden die Sicherheitsmaßnahmen im Jahr 2012 bei Olympischen Spielen in Deutschland aussehen? Genauso?

Vielleicht. Doch diese Nervosität, diese Angst vor, und Reaktion auf tatsächliche und/oder eingebildete Bedrohungen, scheint mir weit übers Maß hinaus zu gehen. Kühle Rationalität, pures Kalkül sieht anders aus. Was ist aus dem britischen Imperativ für alle Lebenslagen geworden, „to keep a stiff upper lip“? Aus der Gabe, auch im Angesicht von dräuenden Gefahren nicht die Ruhe zu verlieren, Haltung zu bewahren?

Sie scheint weit weg. Der Grund: Das 7/7-Trauma: Die vier Bomben explodierten mitten in der Londoner Innenstadt und rissen 52 Menschen aus dem Leben, mehr als 700 wurden verletzt bei den 7/7 Attacs, wie sie genannt werden, die Anschläge am 7 Juli 2005. Es war der Tag, nachdem London die Olympischen Spiele 2012 gewonnen hatte. Der Schock sitzt tief, bis heute, die Erinnerung ist immer da. Wer sich mit Londonern unterhält, kann das spüren, auch bei denen, die nicht zu Hysterie neigen.

Seit den Juli-Attentaten haben die Londoner jede Maßnahme unterstützt und gut geheißen, die die Sicherheit vor solchen Attacken vorgeblich oder tatsächlich steigert. Der auswärtige Besucher ist überrascht bis bestürzt über die Allgegenwart von → CCTV-Sicherheits-Kameras samt neuester Software für Kennzeichen- und Gesichtserkennung, gleich ob auf öffentlichen Plätzen und Straßen, Privatgeländen, in U-Bahn, Kneipe, Museum. Sicherheitsabfragen beim Bankgeschäft, am Telefon, tausende von Passwörtern werden klaglos hingenommen, solange es nur der Sicherheit dient. Die für die Spiele befürchteten, stundenlangen Warteschlangen bei der Einreise werden als Skandal empfunden, schlimmer aber wäre die unerkannte Einreise von möglichen Terroristen mit gefälschten Papieren, weshalb der Independent (13.7.) bereits erweiterte Befugnisse des Militärs im Landesinneren fordert.

Das gleiche Blatt meint heute (16.7.) wiederum in gleich großer Aufmachung, man müsse dringend die „Whatever it takes“-Politik überdenken, und dürfe nicht für die Illusion von absoluter Sicherheit die bürgerlichen Freiheitsrechte komplett verraten. Die meisten Briten, und vor allem die Londoner scheinen anderer Meinung zu sein – für mich ein Zeichen für gesteigerte Verunsicherung angesichts dessen, was da Ende des Monats auf die Insel zukommt.

Die kürzliche Meldung, dass mehr Menschen in Großbritannien durch Insektenstiche ums Leben kommen als durch terroristische Anschläge, beruhigt da nur wenige.

Zu den Wappen! Das Ende des Union-Jack

„Oh no, it‘s Germany!“ titelt heute die „Sun“. Das englische Fachblatt für antideutschen Agitprop zittert jetzt schon um das englische Team, wenn es im Halbfinale der EM gegen Jogi‘s Eleven antreten muss (und übergeht nonchalant, dass es dazu im Viertelfinale erst mal noch Italien besiegen muss).

Sollte es wirklich soweit kommen, dann wird natürlich auch Schottland mitfiebern – mit den Deutschen. Für uns Teutonen haben die Schotten aus unerfindlichen Gründen eine besondere Sympathie. Es würde allerdings wenig ändern, wäre eine andere Mannschaft der Gegner Englands. Denn es ist mittlerweile eine lieb gewonnene Tradition der Schotten, in allen Sportarten jede Mannschaft zu unterstützen – von Usbekistan über Kenia bis zu den USA – nur nicht die verhassten Nachbarn im Süden, mit denen sie – Alas! – die Insel teilen müssen.

Es ist ja auch eine Kuriosität: Bei der Europameisterschaft tritt jedes Land mit einem Nationalteam an, nur die Briten nicht. Die stellen ein Regionalteam auf, England eben. Das ist ungefähr so, als würde Belgien mit einer wallonischen Auswahl antreten, Norwegen mit dem FC Trondtheim, oder Deutschland, sagen wir, die Bayern schicken (was nicht eben klug wäre, weil die wohl im Moment eher auf zweite Plätze abonniert sind, wie ich höre…).

Wie auch immer: Die im Stadion wie im Pub zu solchen Anlässen allenthalben geschwungene Fahne ist die Englische: Rotes Kreuz auf weißem Grund, nicht der britische Union Jack. Und wenn es nach den Schotten geht, wird es demnächst gar keine Gelegenheit mehr geben, die britischen Nationalfarben zu tragen, wie kürzlich noch bei Lizbäts Diamant-Jubiläum – ein Meer aus Blau-Rot-Weiß, auf den Straßen und in den Geschäften, auf Autos, Torten, Papptellern, Winkelementen und gepinselt auf Gesichtern. Die Olympischen Spiele könnten zum letzten Großereignis werden, bei dem die britische Nation diesen Nationalfarben huldigt.

Denn siehe: Das Ende des Union Jack ist nah! So raunen zumindest Heraldiker – und die Briten erschaudern. Sollte sich Schottland beim geplanten Referendum in zwei Jahren tatsächlich vom Rest des Königreichs lossagen, dann wäre es undenkbar für die traditionsbewussten Briten, dass die Fahne unverändert bestehen bleibt. Seit vor 400 Jahren die schottische mit der englischen Krone vereint wurde (übrigens von einem schottischen König), steht das Blau im Union-Jack für das Reich der Highlands. Kein Schottland, kein Blau heißt deshalb die einfache Rechnung – und erste Entwürfe einer neuen Fahne machen die Runde, in Rot und in Weiß und ein bißchen in Grün, plus einem roten Drachen, dem Wappentier von Wales.

Abgesehen von der Flaggenfrage stellt sich natürlich noch eine andere: Wie groß ist Großbritannien, wenn Schottland wegfällt? Bleibt dann noch Britannien übrig, bestehend aus England und Wales? (Nord-Irland gehört nicht dazu, sondern macht aus Großbritannien das Vereinigte Königreich, während die Republik Irland ja gar kein Stück vom königlichen Kuchen der Queen ist – im Gegensatz zum Commonwealth… Herrgott, hätten die das nicht etwas übersichtlicher gestalten können?)

Die Verwirrung ist groß, und deshalb wollen wir den Amerikanischen Fernseh-Kollegen auch nachsehen, dass sie anlässlich des Thronjubiläums einen Reporter Irische Touristen befragen ließ, ob sie stolz auf ihr Staatsoberhaupt seien – und die Antwort auch noch gesendet haben…

Offenbar inspiriert vom möglichen Abfall Schottlands, wagen sich jetzt auch andere aus der Deckung: Am Wochenende (25.6.2012) hat der Regierungschef von Jersey im Guardian gedroht, man müsse sich überlegen, ob man künftig noch bei Großbritannien bleiben könne. Premierminister Cameron hatte angekündigt, Steuerschlupflöcher für die Superreichen zu schließen, von denen die Offshore-Insel traditionell am meisten profitiert. Niemand glaubt natürlich, dass Jersey den Schritt machen wird, aber mit der Perspektive Schottland zu verlieren, spielen solche lauten Überlegungen doch vor einer ernsthaften Drohkulisse.

Londoner Schnäppchen, Teil 2

Die Tage von Bobbele und Steffi sind längst Geschichte, aber das jährliche Hochamt des Tennissports wird immer noch in Wimbledon gefeiert. In einer Woche geht‘s wieder los und Tickets dafür gibt‘s auch, wie man einer Anzeige in der Daily Mail entnehmen kann (nicht eben das Hausblatt der finanzstarken Schichten):

Gewiss ist Wimbledon ein hübsches Städtchen am südlichen Rand Londons und sicher einen Besuch wert. Aber 800 Pfund für ein Tennis-Match? (Dabei sind, wie ich soeben der Financial Times entnehme, die Preise für Tickets in diesem Jahr um 20 Prozent gefallen! – Montag, 25.6.2012)

Bemerkenswert sind dabei nicht nur die lächerlich hohen Preise und das, was man dafür zu sehen bekommt: Männer in kurzen Hosen und Tennissocken (wehe, wenn das deutsche Touris tragen…) und ebenso kurz berockte Damen, die stundenlang kleine grüne Filzbällchen über das grobmaschige Netz prügeln.

Interessant sind vor allem die Abstufungen zwischen den Geschlechtern: Für die 795 Pfund bekommt man zwar Männlein wie Weiblein zu sehen, allerdings nur in den Vorrunden. Ab dem Viertelfinale teilt es sich, und zwar kräftig, so dass man für das Herrenfinale auf dem Centre Court 3.695 Pfund auf den Tennis-Tresen legen muss, während man schon für 995 Pfund zusehen darf, wie sich die Damen zum Sieg stöhnen. Gerecht?

Jedenfalls war das kürzlich angebotene Sting-Konzert im Vergleich wohl tatsächlich ein Schnäppchen: Für seinen Auftritt im Hammersmith Apollo (quasi das hiesige E-Werk) habe ich mich um Karten bemüht: Um jemanden von diesem Kaliber in einem verhältnismäßig so kleinen Laden zu sehen und zu hören, hätte ich durchaus ein paar Pfund mehr ausgegeben.

Um es kurz zu machen: Ich ließ es sein. Zwar gab es Karten ab 68 Pfund, die aber nicht nur im zweiten Rang hinten, sondern „mit Sichtbehinderung“. Die Ticketpreise sprangen dann mit zunehmender Nähe zur Bühne munter nach oben, so dass ein Platz in der ersten Reihe nicht 200, nicht 500, nein, 853 Pfund kostete. Vorverkaufsgebühr inklusive, immerhin.

Nun werden solche Preise in der Regel nicht vom Veranstalter aufgerufen, sondern von dubiosen Ticket-Agenturen, meist online verhökert: Die Agenturen sichern sich über irgendwelche dunklen Wege Kontingente, die es offiziell nicht gibt und gegen darf, warten nach Vorverkaufsbeginn ein paar Stunden ab, bis alle regulären Karten weg sind, und beginnen dann mit ihrer ganz eigenen Preisgestaltung aus dem Hause Wolkenkuckucksheim. Das Überraschende ist auch hier wieder nicht, dass diese Krämerseelen es versuchen, sondern dass die Tickets tatsächlich für diese Preise über den virtuellen Ladentisch gehen.

Natürlich ist das auch bei Olympia so und als vergangene Woche noch einmal ein Schwung Tickets freigegeben wurde, hatten die meisten mal wieder das Nachsehen (im Vorfeld hatte es massive Proteste von zehntausenden Engländern gegeben, weil sie trotz frühzeitiger Versuche keine Chance bekommen hatten, die Spiele im eigenen Land live mitzuerleben. Scheint sich nicht viel geändert zu haben). Ein Kollege vom Daily Telegraph berichtete nach einem Selbstversuch seufzend, dass 86 Pfund für die Vorrunde im Tischtennis nicht ganz seinen Vorstellungen entsprachen, aber als er noch einen Moment überlegte, sei der Preis ums das Dreifache nach oben geschnellt. Das Finale im Weitsprung der Damen für 675 Pfund wiederum fand nicht die Zustimmung seiner Gattin.

Da wird‘s doch das Sofa vor dem Fernseher werden, wie für die meisten. Die Atmosphäre mag nicht ganz so aufregend sein, wie vom Rang – aber die bessere Sicht hat er da allemal. Und der Rest der Londoner wird eh versuchen, sich so weit wie möglich von allem fern zu halten, was mit den Olympischen Spielen zu tun hat. Die Online-Agenturen nehmen noch Wetten an, ob der Verkehr nur teilweise oder ganz zusammenbrechen wird, aber das ist wieder ein anderes Thema…

Nachtrag: Tausende Olympia-Tickets sollen von Mitarbeitern des Internationalen Olympischen Komittees auf dem Schwarzmarkt verkauft worden sein.  Wie der Sunday Telegraph gestern (17.6.) meldet, sind Untersuchungen zu diesem Vorwurf angelaufen. Bei den Eintrittskarten soll es sich um die besten Plätze im Olympischen Stadion handeln, einige davon sollen zum 10-fachen des normalen Preises losgeschlagen worden sein: 6000 Pfund Sterling.