„Heute morgen zum Beispiel,“ erzählt Tracey mit großen Augen (Namen aufgrund nachlässiger Recherche des Autoren geändert), „ich saß in der Tube und mich hat eine Frau auf meine Frisur angesprochen – einfach so!“ Tracey sitzt mir gegenüber und schaut ungläubig bis sanft verstört. „Ich meine, ich finde das toll, und warum auch nicht…“ – Aber so ganz geheuer scheint ihr die Sache doch nicht gewesen zu sein. In der U-Bahn mit Fremden sprechen, wenn man nicht schon seit drei Stunden darin eingesperrt ist, weil der Zug liegen geblieben ist? Obwohl keine Charity den Hug-a-stranger-in-the-tube-day ausgerufen hat? Ziemlich undenkbar!
Die Truppe Italiener am anderen Ende des Tisches nickt geschlossen, und erklärt vielstimmig und alle gleichzeitig, wie ruhig es im hiesigen Untergrund-Transportsystem zugeht im Vergleich zu, sagen wir, der Metro in Rom.
Auch sonst sind ja die Möglichkeiten für einen Londoner eher beschränkt, mit anderen, ihm unbekannten Menschen ungezwungen ins Gespräch zu kommen: Pub, Cab, Wartezimmer… – dann wird’s schon eng. Und dabei muss es meist der Weather Talk richten, also die allfällige Klage darüber, dass es mal wieder zu kalt/heiß/nass/schwül/trocken ist für Londoner Verhältnisse. Der Weather Talk ist als Icebreaker gedacht, als Schmiermittel, um das Konversationsrad in Schwung zu bringen. Meist bringt er aber wenig in Schwung, sondern läuft mit einem Nicken und halbherzig gemurmelten Bekundungen der Zustimmung wieder aus, und man beginnt damit, die Werbetafeln für Vitaminpillen gegenüber zum 33. mal zu lesen (Tube), interessiert die Blutdrucktabelle zu studieren (Arzt), die Gin-Sammlung hinter dem Barkeeper zu begutachten (Pub).
Vielleicht ist das der Grund, warum die Idee der Supper Clubs hier so großen Anklang findet. Wer möchte, kann jeden Abend der Woche zu einem anderen gehen, sich mit einem Haufen fremder Menschen an den Tisch setzen und zu einem vergleichsweise moderaten Preis (meist zwischen 25 und 35 Pfund) hervorragend mehrgängig speisen und trinken. Allein die Seite London Pop-Ups listet 74 Supper Clubs auf, von gehobenem Pub-Food über mediterrane und malayische, bis japansiche oder world-fusion-cross-over-Küche. Manche an abgefahrenen Orten, manche glutenfrei und/oder vegan, manche mit musikalischer Begleitung.
Wir haben uns für einen Samstag Abend Stairway to Heaven ausgesucht. Die vorgebliche Himmelstreppe befindet sich hinter einer schweren Metalltür in einer kleinen Sackgasse, welche ansonsten zu den Hintertüren diverser Restaurants und Geschäfte von Soho führt. Wem nach Klingeln und Identifizierung via Gegensprechanlage aufgetan wird, dem eröffnet sich besagte, nun ja, Treppe, die mit „Albtraum des Möbelpackers“ besser beschrieben wäre, eine Art Stiege also. Fühlt sich sogar ein bißchen verrucht an. Bilder von Speakeasys, den Hinterzimmer-Spelunken der Prohibitionszeit, schießen durch den Kopf, lösen sich aber in Nichts auf, als uns am oberen Ende Leonardo und Stefano warm empfangen. Der verstaut den mitgebrachten Rosé-Wein im Kühlschrank (BYO – Bring Your Own bottle of wine ist momentan mal wieder schwer in Mode und bietet sich für solche halb-privaten Veranstaltungen natürlichan).
Bei Supper Clubs sei es empfehlenswert, einigermaßen pünktlich zu erscheinen, haben wir vorher gelesen, da ja schließlich alle zusammen essen wollen und eine Reihe von Gängen zu bewältigen ist. Also widerstehen wir unserem teutonischen Drang, alles richtig machen zu wollen, und deshalb mit ordnungsgemäßer mediterraner Verspätung zu kommen (zumal ja auch der Engländer nicht für Pünktlichkeit verschrien ist), stehen also um Punkt zwei Minuten nach in der Wohnung – und sind trotzdem nicht die Ersten: Tracey und ihre Freundin sitzen bereits am Tisch, wenige Minuten später sind alle anderen eingetroffen, die Engländer eher dezent („Hi, have you been to a Supper Club before?“), die italienische Abordnung mit standesgemäßem Getöse – Ciao Bella hier und Bacio da – und dem festen Vorsatz, heute Abend gut zu essen, gut zu trinken und Spaß zu haben (wenn man längere Zeit im Ausland lebt, lösen sich einige Vorurteile bald in Wohlgefallen auf. Andere wiederum…) Bald sind die ersten mitgebrachten Weinflaschen entkorkt – es kann los gehen.
Die Menüfolge liest sich hervorragend – und schmeckt noch besser. Der Abend steht unter der kulinarischen Schirmherrschaft der Toskana: Wir beginnen mit gegrillten Paprika, gefüllt mit einer Farce aus Huhn, Kapern und Oliven. Während Leonardo aufträgt, schwitzt Stefano weiter in der Küche und ist mit dem zweiten Gang beschäftigt (oder war es umgekehrt? Stefano serviert und Leonardo kocht? Ich hätte es mir aufschreiben müssen, aber der Kuli war leer, das Papier alle, ich hatte einen Krampf in der Hand, und zeitweise Anfälle von Legasthenie… glaubt mir das bitte jemand?) Zweiter Gang jedenfalls: Seeteufel in Pancettamantel mit Zucchini-Creme und Weißwein-Knoblauch-Sauce. Soweit die Antipasti. Jetzt die Nudeln: Ravioli gefüllt mit Perlhuhn. Danach der Hauptgang: Gegrillte Wachtel mit Saba-Füllung (was auch immer das ist. Erklärungen werden gern entgegen genommen), mit Dinkelweizen, Tomaten und Feldsalat; das ganze abgeschlossen von Pana Cotta, gebackener Pflaume, Schokoladensauce und Amaretto-Keks. Ok, der Keks war ein bißchen viel des Guten, aber sonst…
Bis auch letzterer gegessen ist, zeigt die Uhr kurz vor elf. Stefano und Leonardo haben sich nach getaner Arbeit hinzu gesellt, einer der italienischen Gäste hat den Schrank mit Spirituosen entdeckt. Jetzt heißt es, sich schnell verabschieden, um Schlimmes zu vermeiden. Die drei Engländerinnen wissen wie das geht, wir aber verpassen den richtigen Zeitpunkt und ahnen nun, dass wir morgen viel Gelegenheit haben werden zur Reue.
Zwei Stunden später ist der Spirituosenschrank geplündet, die traditionsreiche deutsch-italienische Achse hat sich gegen die Engländer erneut verbrüdert, die Schlafzimmertür Leonardos (oder Stefanos) ist eingetreten (die Türklinke war seit geraumer Zeit verschwunden und die Tür unglücklicherweise gerade heute abend zugefallen – uns blieb also nichts anderes übrig, als ihn aus der misslichen Lage befreien, damit er heute nacht in seinem Bett schlafen kann). Alles in allem: ein runder Abend. Leonardo und Stefano verabschieden uns herzlich und wir steigen die Stiege hinab in die Nacht von Soho mit dem festen Vorsatz, diese Himmelstreppe bald mal wiederzu erklimmen.