Zu Gast bei Fremden: Der Himmels-Stiegen-Supper-Club

1-IMG_5100„Heute morgen zum Beispiel,“ erzählt Tracey mit großen Augen (Namen aufgrund nachlässiger Recherche des Autoren geändert), „ich saß in der Tube und mich hat eine Frau auf meine Frisur angesprochen – einfach so!“ Tracey sitzt mir gegenüber und schaut ungläubig bis sanft verstört. „Ich meine, ich finde das toll, und warum auch nicht…“ – Aber so ganz geheuer scheint ihr die Sache doch nicht gewesen zu sein. In der U-Bahn mit Fremden sprechen, wenn man nicht schon seit drei Stunden darin eingesperrt ist, weil der Zug liegen geblieben ist? Obwohl keine Charity den Hug-a-stranger-in-the-tube-day ausgerufen hat?  Ziemlich undenkbar!

Die Truppe Italiener am anderen Ende des Tisches nickt geschlossen, und erklärt vielstimmig und alle gleichzeitig, wie ruhig es im hiesigen Untergrund-Transportsystem zugeht im Vergleich zu, sagen wir, der Metro in Rom.

1-IMG_5106Auch sonst sind ja die Möglichkeiten für einen Londoner eher beschränkt, mit anderen, ihm unbekannten Menschen ungezwungen ins Gespräch zu kommen: Pub, Cab, Wartezimmer… – dann wird’s schon eng. Und dabei muss es meist der Weather Talk richten, also die allfällige Klage darüber, dass es mal wieder zu kalt/heiß/nass/schwül/trocken ist für Londoner Verhältnisse. Der Weather Talk ist als Icebreaker gedacht, als Schmiermittel, um das Konversationsrad in Schwung zu bringen. Meist bringt er aber wenig in Schwung, sondern läuft mit einem Nicken und halbherzig gemurmelten Bekundungen der Zustimmung wieder aus, und man beginnt damit, die Werbetafeln für Vitaminpillen gegenüber zum 33. mal zu lesen (Tube), interessiert die Blutdrucktabelle zu studieren (Arzt), die Gin-Sammlung hinter dem Barkeeper zu begutachten (Pub).

Vielleicht ist das der Grund, warum die Idee der Supper Clubs hier so großen Anklang findet. Wer möchte, kann jeden Abend der Woche zu einem anderen gehen, sich mit einem Haufen fremder Menschen an den Tisch setzen und zu einem vergleichsweise moderaten Preis (meist zwischen 25 und 35 Pfund) hervorragend mehrgängig speisen und trinken. Allein die Seite London Pop-Ups listet 74 Supper Clubs auf, von gehobenem Pub-Food über mediterrane und malayische, bis japansiche oder world-fusion-cross-over-Küche. Manche an abgefahrenen Orten, manche glutenfrei und/oder vegan, manche mit musikalischer Begleitung.

1-IMG_5093Wir haben uns für einen Samstag Abend Stairway to Heaven ausgesucht. Die vorgebliche Himmelstreppe befindet sich hinter einer schweren Metalltür in einer kleinen Sackgasse, welche ansonsten zu den Hintertüren diverser Restaurants und Geschäfte von Soho führt. Wem nach Klingeln und Identifizierung via Gegensprechanlage aufgetan wird, dem eröffnet sich besagte, nun ja, Treppe, die mit „Albtraum des Möbelpackers“ besser beschrieben wäre, eine Art Stiege also. Fühlt sich sogar ein bißchen verrucht an. Bilder von Speakeasys, den Hinterzimmer-Spelunken der Prohibitionszeit, schießen durch den Kopf, lösen sich aber in Nichts auf, als uns am oberen Ende Leonardo und Stefano warm empfangen. Der verstaut den mitgebrachten Rosé-Wein im Kühlschrank (BYO – Bring Your Own bottle of wine ist momentan mal wieder schwer in Mode und bietet sich  für solche halb-privaten Veranstaltungen natürlichan).

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Alle Fotos in diesem Artikel: (c) 2014 Martin Herzog

Bei Supper Clubs sei es empfehlenswert, einigermaßen pünktlich zu erscheinen, haben wir vorher gelesen, da ja schließlich alle zusammen essen wollen und eine Reihe von Gängen zu bewältigen ist. Also widerstehen wir unserem teutonischen Drang, alles richtig machen zu wollen, und deshalb mit ordnungsgemäßer mediterraner Verspätung zu kommen (zumal ja auch der Engländer nicht für Pünktlichkeit verschrien ist), stehen also um Punkt zwei Minuten nach in der Wohnung – und sind trotzdem nicht die Ersten: Tracey und ihre Freundin sitzen bereits am Tisch, wenige Minuten später sind alle anderen eingetroffen, die Engländer eher dezent („Hi, have you been to a Supper Club before?“), die italienische Abordnung mit standesgemäßem Getöse – Ciao Bella hier und Bacio da – und dem festen Vorsatz, heute Abend gut zu essen, gut zu trinken und Spaß zu haben (wenn man längere Zeit im Ausland lebt, lösen sich einige Vorurteile bald in Wohlgefallen auf. Andere wiederum…) Bald sind die ersten mitgebrachten Weinflaschen entkorkt – es kann los gehen.

1-IMG_5114Die Menüfolge liest sich hervorragend – und schmeckt noch besser. Der Abend steht unter der kulinarischen Schirmherrschaft der Toskana: Wir beginnen mit gegrillten Paprika, gefüllt mit einer Farce aus Huhn, Kapern und Oliven. Während Leonardo aufträgt, schwitzt Stefano weiter in der Küche und ist mit dem zweiten Gang beschäftigt (oder war es umgekehrt? Stefano serviert und Leonardo kocht? Ich hätte es mir aufschreiben müssen, aber der Kuli war leer, das Papier alle, ich hatte einen Krampf in der Hand, und zeitweise Anfälle von Legasthenie… glaubt mir das bitte jemand?) Zweiter Gang jedenfalls: Seeteufel in Pancettamantel mit Zucchini-Creme und Weißwein-Knoblauch-Sauce.  Soweit die Antipasti. Jetzt die Nudeln: Ravioli gefüllt mit Perlhuhn. Danach der Hauptgang: Gegrillte Wachtel mit Saba-Füllung (was auch immer das ist. Erklärungen werden gern entgegen genommen), mit Dinkelweizen, Tomaten und Feldsalat; das ganze abgeschlossen von Pana Cotta, gebackener Pflaume, Schokoladensauce und Amaretto-Keks. Ok, der Keks war ein bißchen viel des Guten, aber sonst…

1-IMG_5118Bis auch letzterer gegessen ist, zeigt die Uhr kurz vor elf.  Stefano und Leonardo haben sich nach getaner Arbeit hinzu gesellt, einer der italienischen Gäste hat den Schrank mit Spirituosen entdeckt. Jetzt heißt es, sich schnell verabschieden, um Schlimmes zu vermeiden. Die drei Engländerinnen wissen wie das geht, wir aber verpassen den richtigen Zeitpunkt und ahnen nun, dass wir morgen viel Gelegenheit haben werden zur Reue.

Zwei Stunden später ist der Spirituosenschrank geplündet, die traditionsreiche deutsch-italienische Achse hat sich gegen die Engländer erneut verbrüdert, die Schlafzimmertür Leonardos (oder Stefanos) ist eingetreten (die Türklinke war seit geraumer Zeit verschwunden und die Tür unglücklicherweise gerade heute abend zugefallen – uns blieb also nichts anderes übrig, als ihn aus der misslichen Lage befreien, damit er heute nacht in seinem Bett schlafen kann). Alles in allem: ein runder Abend. Leonardo und Stefano verabschieden uns herzlich und wir steigen die Stiege hinab in die Nacht von Soho mit dem festen Vorsatz, diese Himmelstreppe bald mal wiederzu erklimmen.

Next Stop: Lego

Eine komplette Bushaltestelle aus dänischen Plastikklötzchen – nicht ganz zufällig vor dem Spielwaren-Geschäft Hamley’s in Regents Street: Irgend ein Irrer hat aus aus 100.000 Legosteinen die Haltestelle gebastelt, und pünktlich zur heutigen Busparade fertiggestellt.

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Damit feiert London das Jubiläum des Routemaster, des ikonischen Urmodells des roten Londoner Doppeldecker-Busses, sowie seines Vorgängers (siehe auch hier). Regents Street wird heute gesperrt für Pferde-gezogenen Busse aus den 1820er Jahren, den ersten motorbetriebenen Modellen Anfang des 20. Jahrhunderts, bis zum aktuellen New Routemaster. Der Werks-Chor der Londoner Verkehrsbetriebe wird singen, und Emma Hignett, die Stimme aus den Buslautsprechern, wird anwesend sein, und auf Wunsch die persönliche Ansage für’s Smartphone sprechen.

Die Legohaltestelle soll übrigens über den heutigen Tag hinaus betrieben werden: Noch bis Mitte Juli kann man hier auf Busse warten – letztere leider nicht aus Lego.

Reinschauen: Eine Ikone wird 60

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sofern nicht anders gekennzeichnet, alle Fotos in diesem Artikel (c) Martin Herzog 2014

London ohne rote Doppeldecker-Busse, das ist wie… wie…, na, wie London ohne rote Doppeldecker-Busse eben. Über 6000 davon bevölkern die Straßen und befördern täglich sechseinhalb Millionen Passagiere – das ist doppelt so viel wie die Zahl der Tube-Reisenden, und die Hälfte des Busverkehrs ganz Englands!

Aber nicht alle Doppeldeckerbusse sind gleich. Das Original ist der Routemaster, und der feiert Jubiläum. Londons Bürgermeister Boris Johnson hat deshalb das Jahr des Busses ausgerufen. 60 Jahre nach seinem Dienstantritt fahren immer noch einige wenige der alten Arbeitspferde im ganz normalen Liniendienst auf Londons Straßen, auf den sogenannten Heritage-Linien.

10 Uhr morgens: Schichtbeginn für Linie 9, eine von zwei Routen, auf denen noch eine Hand voll Original-Routemaster-Busse seinen regulären Dienst tut. Im 15 Minuten-Takt pendelt der Jubilar zwischen Trafalgar Square und dem noblen Stadtteil Kensington hin und her (Die andere ist die Linie 15 von Trafalgar Square bis Tower Hill).

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Seit 9 Jahren arbeitet Schaffner Stafford Williams auf dem Routemaster. Seine Jobbeschreibung: an der hinteren Plattform stehen und aufpassen, dass sich niemand beim Ein- und Aussteigen die Gräten bricht, Tickets kontrollieren, freundlich sein, und die nächsten Haltestellen ausrufen – gern auch verbunden mit praktischen Hinweisen, wie dem Ratschlag beim Halt am Kaufhaus Harrods, zunächst eine Bohrmaschine zu erwerben, um schon mal das Loch in der Kreditkarte vorzubohren „Der Schaffner alter Schule musste jede einzelne Haltestelle kennen, egal auf welcher Route er gerade fuhr,“ erzählt Stafford, „besonders für die ältere Generation ist es schön, wenn noch jemand die Haltestellen ausruft, denn das erinnert sie daran, wie es früher einmal war.“

Stafford liebt seine Arbeit, Stammgäste werden schon mal mit Handschlag begrüßt. In einer Stadt wie London ein eher seltener Anblick (und im Vergleich zur Tube, wo es einen Bruch der Etikette bedeutet, mit Unbekannten zu reden, schon fast skandalös).

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(c) London Transport Museum

Für Generationen von Londonern war der Routemaster weit mehr als einfach nur Transportmittel. Seit er 1954 eingeführt wurde, gehört er zur britischen Hauptstadt wie Big Ben und Tower Bridge. Wer das London Transport-Museum besucht, bekommt den Routemaster in allen möglichen Formen und Größen zu sehen, aber natürlich nur in einer Farbe.

Dass es sich dabei um das gleiche Rot handelt wie die berühmten englischen Telefonzellen und die Briefkästen der Royal Mail, ist purer Zufall, sagt Museums-Kuratorin Anna Renton. Aber die Signalfarbe hat dem Ruf natürlich auch nicht geschadet: „Der Routemaster ist zu einer Londoner Ikone geworden. Er ist leicht zu erkennen, vielleicht der bekannteste Bus der Welt, und mit Sicherheit der einzige Bus, den viele Menschen mit Namen kennen. sie wissen: Das ist der Routemaster.“

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(c) London Transport Museum

Seit den 50ern ist er aus dem Londoner Straßenbild nicht mehr wegzudenken. Knapp 2900 Stück wurden gebaut, im Vergleich zu früheren Modellen in Technik und Design weit vorn, sagt Kuratorin Anna Renton: „Der Routemaster sollte so komfortabel sein wie ein privates Auto. Innen gibt es deshalb eine Heizung, sehr gute Beleuchtung, eine Federung, die die Fahrt sehr viel komfortabler machte. Die Sitze waren viel bequemer als alle früheren Bussitze. Und der Fahrer bekam eine Servolenkung. Für ihn war der Bus viel einfacher zu lenken, denn er war leichter durch die Aluminiumkarosserie.“

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Für so manchen Fahrer ist der Routemaster auch heute noch ein Traum, und nicht nur für die ältere Generation: Danni Ducheck ist nicht einmal halb so alt, wie das Schätzchen, das er lenkt. „Meine Mum hat mich im Routemaster immer mit zur Arbeit genommen, wenn wir Schulferien hatten, und ich habe dann ganz vorn gesessen und den Fahrer beobachtet,“ erzählt Dann und grinst. „Und als ich 11 war habe ich gefragt: ‚Wann darf ich den Routemaster fahren?‘ Ich liebe ihn einfach, ich könnte nicht glücklicher sein, es ist so ein großartiges Gefährt, und es zaubert nicht nur ein Lächeln auf mein Gesicht, sondern bei jedem, der mitfährt.“

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Das unverkennbare Markenzeichen des Routemasters ist natürlich die offene Platform hinten, die es ermöglicht, während der Fahrt auf- und abzuspringen – auch wenn das von den Schaffnern nicht immer gern gesehen ist. „Wir fördern das nicht unbedingt,“ sagt Stafford Williams, „einfach wegen des Unfallrisikos: Wenn der Verkehr sich sehr langsam bewegt ist das ok, aber wenn er normal fließt, kann schnell etwas passieren. Hinzu kommen immer mehr Fahrradfahrer, die man beim Abspringen schnell übersieht.“

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(c) London Transport Museum

Die hintere Plattform ist noch ein ganzes Stück älter als der Routemaster selbst. Es gibt sie seit den Tagen der frühen Pferdebusse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, weil man nur so auf das obere Deck kam, wenn Pferde den Bus zogen. Die Plattform war schon ein Standard-Feature, als der Routemaster eingeführt wurde.

Eine Tradition, mit der London natürlich keinesfalls bricht: Seit zwei Jahren rollt der NewRoutemaster über Londons Straßen. Bürgermeister Boris machte den Routemaster-Doppeldeckerbusses 2008 erfolgreich zum Wahlkampfthema und versprach, die einstöckigen Gelenkbusse von Londons Straßen zu verbannen, die sein sozialistischer Amtsvorgänger eingeführt hatte (und die zu allem Überfluss auch noch aus Deutschland kamen – das ging natürlich gar nicht).

Die ersten New Routemaster-Busse wurden Anfang 2012 in Dienst gestellt, bis 2016 sollen es 600 werden – im Vergleich zu den knapp 2900 original Routemaster-Bussen natürlich eine überschaubare Zahl. Außen und Innen entworfen vom Star-Designer Thomas Heatherwick (von ihm stammt die abgedrehte Flammenschale der Olympischen Spiele 2012), ist er zugleich futuristisch und eine Reminiszenz an seinen Ahnherrn.

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In jedem Fall wollen Londoner auf ihren Routemaster nicht verzichten, sagt Schaffner Kayo Meredith: „Die meisten Passagiere lieben den Bus, vor allem die Tatsache, dass man immer noch auf- und abspringen kann – dafür ist der Bus schließlich gemacht. Es ist der alte Routemaster gemsicht mit dem neuen, also muss man auf und abspringen. Es gibt Dir das Gefühl, in das London vor 20 Jahren zu reisen.“

Und so ist der Neue Routemaster auf dem besten Wege, auf der Spur seines Vorgängers zu folgen – als rote Ikone Londons.

Der Beitrag Londons Doppeldecker-Busse werden 60 (Euromaxx, Deutsche Welle) ist hier zu sehen (beginnt bei etwa 9 Minuten)

 

Mind the map! Oder: Sein und Zeit

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(c) 2014 Martin Herzog

„We are happy to confirm that the train has left Hammersmith Station.“ – Ein kollektiver Seufzer geht durch die Reihen. Hammersmith, das heißt, in gut 5 Minuten wird er hier sein. Wenn alles glatt läuft.

9:28 Uhr. Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich am Bahnsteig der Haltestelle Wood Lane, wie vermutlich die meisten der vielleicht 200 Mitreisenden um mich herum. In einem großen Schwung sind wir von White City herüber gekommen, denn dort ist heute Endstation für die Central Line. Normalerweise ist sie eine der Arterien des U-Bahn-Verkehrs, pumpt jeden Tag Hunderttausende Untergrundreisende von West nach Ost, und Ost nach West.

Heute nicht. Heute ist Warnstreik. Quer durch ganz London. Die Gewerkschaften und der Bürgermeister liegen über Kreuz, weil einige Linien ab Anfang 2015 rund um die Uhr laufen sollen, und dafür an anderer Stelle gespart werden soll. Deshalb machen die Unions in dieser und der kommenden Woche  an jeweils drei Tagen 80 Stationen dicht, und legen drei Tube-Linien lahm. Zwei davon sind dummerweise die, die bei mir in Reichweite liegen. Neben der Central wird auch die Piccadilly Line bestreikt, die mich normalerweise bis Oxford Circus bringen würde, damit zu meinem Termin in Fitzrovia komme. Dazu fallen Teile der Jubilee-Line aus, die District und die Circle Line sind auch nur streckenweise betrieben. U-Bahnfahren ist heute ein Puzzlespiel.

tube-mapDie Umsonst-Zeitung Metro hat dankenswerter Weise eine Karte der Tube veröffentlicht, die die entsprechenden Teile der Tube weg retouchiert hat. Sieht nicht so dramatisch aus, aber Central und die Piccadilly sind eben die Lasttiere der Tube.

Also bin ich eine gute dreiviertel Stunde früher los gegangen als sonst, mit der Central Line so weit gefahren wie es ging, und stehe jetzt an Wood Lane, um auf Hammersmith & City zu warten, eine der Bummelbahn-Linien, die im großen Kreis um den Stadtkern herum eiern und dabei an jeder Milchkanne halten. Nur nicht heute, aber ich greife vor.

9:35 Uhr. Der Zug fährt ein. Die Türen gehen auf, ohne viel Gedränge schieben sich die Menschen hinein. Aber irgendwann geht nichts mehr. In Tokio würden jetzt vermutlich Bahnmitarbeiter noch ein paar dutzend Fahrgäste hinterher schieben. Aber das hier ist London. Die Türen gehen zu, der Zug fährt ab. Ich schaue ihm hinterher. Macht nichts. Die Dame, die im Lautsprecher wohnt, hat gesagt, man solle nicht drängen, der nächste Zug sei gleich hinter diesem. „Das sagen sie immer,“ werde ich am Abend von meiner Liebsten hören, „damit die Leute nicht panisch werden.“ – Ich bin auch nicht panisch.

9:50 Uhr. Langsam werde ich panisch. Seit einer Stunde bin ich unterwegs für eine Strecke, die ich in dieser Zeit auch zu Fuß hätte zurücklegen können. Leider kann man das von der Strecke, die noch vor mir liegt, nicht sagen. Mein Termin ist um 10:30 Uhr. Und vom versprochenen Zug keine Spur. Bisher habe ich immer das Tube-Netz gegen moppernde Londoner verteidigt. Dreieinhalb Millionen Fahrgäste täglich, und das unter Dauerlast in einem 150 Jahre alten Verkehrssystem – da kenne ich andere, hier nicht namentlich erwähnte Großstädte im Rheinland, die einen Bruchteil dessen nicht gestemmt kriegen. Heute aber wird’s wohl eine Geduldprobe…

9:55 Uhr. Der nächste Zug fährt ein. Zum Glück ist er nicht ganz so überfüllt wie der erste. Ich steige im letzten Waggon ganz hinten ein. Völlig ungewohnt, begrüßt uns der Fahrer per Lautsprecher. Für hiesige Verhältnisse ist er sogar gut gelaunt. Man möge doch bitteschön unter den gegebenen Umständen nicht auch noch Zeitung lesen, da jede aufgeschlagene Postille mit Sicherheit im Gesicht eines Mitreisenden lande und zudem Platz raube. Jeder Millimeter zählt! Ein paar Pendler lächeln gequält. An Paddington Station ist es dann auch vorbei mit dem entspannten Stehen. Massen drücken herein. Immer zu! Herzlich willkommen!

10:15 Uhr. Ich könnte es vielleicht doch noch schaffen. Meine Haltestelle Great Portland Street wäre nur zwei Laufminuten von meinem Termin entfernt. Ich weiß aber, dass auch die bestreikt wird. Deshalb habe ich mir heute morgen schon zu Hause den Schlachtplan zurechtgelegt, dass ich eine Station vorher aussteige, Baker Street, und die anderthalb Kilometer bis zu meinem Ziel laufe.

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(c) 2014 Martin Herzog

10:18 Uhr. „the next Station is Baker Street. All doors will not open in this carriage. Please use other doors.“ Während ich noch überlege, ob der Satz das heißt, was er sagt, nämlich dass alle Türen dieses Waggons sich nicht öffnen, also dass sich keine Tür öffnet, oder ob sich nur einige Türen dieses Waggons nicht öffnen, hält der Zug – allerdings im Tunnel. Ich blicke um mich. An der Tunnelwand sehe ich Schilder: Baker Street, move forward to the next door (oder so ähnlich, ich habe jetzt wirklich keine Muße, mir das zu notieren). Wir stehen also schon an Baker Street! Zumindest ein Großteil des Zuges. Nur das Ende passt nicht rein, weswegen nur die vorderen Türen geöffnet werden. Ich unternehme einen halbherzigen Versuch, mich Richtung Zugfront zu quetschen, hinter mir höre ich ein verständnisvolles Good Luck! Da höre ich auch schon die Ansage: „The train is now ready to depart, please mind the closing doors.!“ – Vor meinem Fenster öffnet sich der Tunnel, tränen-verschleiert sehe ich den Bahnsteig Baker Street langsam an mir vorüber ziehen, bis die Dunkelheit der Röhre uns wieder sanft umfängt.

9:21 Uhr. Der Zug bremst. Meine Haltestelle Great Portland Street zieht im Schrittempo an uns vorbei… Verweht… Nie wieder.

9:23 Uhr. Euston Square. Die Türen öffnen sich. Hier müsste ich raus. Ich könnte es noch schaffen. Termine? Ach, Termine! Gleich vor mir wird ein Sitzplatz frei.

Bücher über London: Bill Bryson – Reif für die Insel

bill_bryson_notes_from_a_small_islandWie heißt diese Rubrik? Bücher über… genau: London ist nicht England und England ist nicht London, schon klar. Bill Brysons Bestseller aus dem Jahr 1993 spielt nur kurz in der Hauptstadt, um sich dann dem Streifzug durch die Grafschaften und Küstenstreifen zu widmen, durch die Industriestädte und Naturwanderwege, die architektonischen Großtaten und Scheußlichkeiten,  die diese Insel zu dem machen, was man das Vereinigte Königreich zu nennen pflegt.

Aber allein die beiden kurzen Kapitel, die Bryson der Hauptstadt widmet, stecken voll kleiner Beobachtungen und großer Wahrheiten, aus denen andere Autoren eine ganze London-Reihe machen würden. Das beginnt mit der Erkenntnis, dass, gleich, wie lange man hier lebt, immer wieder neue, nie gehörte Namen von Stadtvierteln und Straßen auftauchen; kommt zu der Einsicht, dass Londoner Taxifahrer – bei all ihren zu rühmenden Qualitäten – allesamt nicht in der Lage sind, mehr als 200 Meter geradeaus zu fahren; und gipfelt im Lobgesang auf den Londoner U-Bahnplan mit seiner eigenwilligen, von aller oberirdischen Geografie losgelösten Schönheit. Zur Illustration empfiehlt Bryson einen kleinen, boshaften Zeitvertreib, geeignet für Besucher aus, sagen wir, Neufundland oder Lincolnshire:

Man gebe ihnen den Auftrag, von der Tube-Station Bank nach Mansion House zu gelangen. Der Tube-Map folgend werden sie die Central Line bis Liverpool Street nehmen, dort in die Circle Line umsteigen, und nach fünf Stationen in Mansion House ankommen.  Wenn sie dort ans Tageslicht steigen, werden sie feststellen, dass sie sich auf der gleichen Straße befinden wie die Abfahrtsstation, nur 60 Meter weiter. Man selbst hat in der Zwischenzeit Gelegenheit gehabt, ein ausgiebiges Frühstück zu sich zu nehmen und den Wochenend-Einkauf zu erledigen.

Auch das Kapitel über seine Zeit bei der Londoner Times ist höchst unterhaltsam, als es in den Redaktionsstuben noch angemessen gemächlich zuging, Gin des Redakteurs bester Freund war, und man sich die übersichtlich bemessene Arbeitszeit mit der Frage vertrieb, was all die anderen Leute im Büro eigentlich so machen den ganzen Tag. Kein Wunder, dass es zu kaum für möglich gehaltenen Verwerfungen führte, als der ebenso kurzbeinige wie sonnen-gegerbte Australier Rupert Murdoch das Traditionsblatt übernahm.

Von London aus führt Brysons Trip durch das gesamte Königreich, kurz nur mit dem Auto, ansonsten per Bahn (ein Abenteuer für sich) und per pedes, ausgerüstet mit Rucksack (ich stolpere immer noch über dieses deutsche Wort im englischen Sprachschatz: Racksäck) und einer OS Map. OS steht dabei nicht für Operating System und auch nicht für On Screen, sondern für Ordnance Survey. Es handelt sich also um eine Landvermessungskarte, die in aller Regel im Maßstab 1:25000 geliefert werden, was bedeutet, dass sich jeder Maulwurfshügel und jeder Schrebergarten darauf verzeichnet findet.

Brysons Reisereport ist nicht ganz so kleinteilig wie sein Kartenmaterial, seinen Skizzenbleistift aber hat er gut gespitzt. Und so genügen dem Amerikaner meist wenige präzise Striche, um Engländer, Waliser und Schotten samt ihrer Behausungen, Eigenheiten und Schnurren zu porträtieren.

English: Bill Bryson in 2005. Bill Bryson Amer...

Bill Bryson
(c) Wikipedia

Dass Bill Bryson ein scharfer Beobachter ist, weiß man spätestens seit diesem Buch. Berühmt geworden durch Reisereportagen wie Streiflichter aus Amerika gibt es von ihm inzwischen Abhandlungen über Shakespeare im Besonderen ebenso wie die Englische Sprache im Allgemeinen (Mother Tongue), die Geschichte des Wohnens (At Home) oder gleich das ganze Universum (Eine kurze Geschichte von fast allem)  – sämtliche gleichermaßen lesenswert wie unterhaltsam.

Dass der Wahl-Engländer aber auch seherische Fähigkeiten hat, ist mir erst bei der Lektüre von Notes from a small Island klar geworden. So lässt er sich in Kapitel 12 über Oxford aus, das hier stellvertretend für die typisch englische Bildungs-Besessenheit steht. Nachdem er der 800-jährigen Tradition der Universität seinen tiefsten Respekt bezeugt hat, stellt er die Frage, ob diese Besessenheit nicht ein wenig deplatziert sei im modernen England mit seinen drei Millionen Arbeitslosen. Zu Illustration berichtet er von der Meldung in den Abendnachrichten, in denen ein Sprecher freudig verkündet, dass der Konzern Samsung  800 Arbeitsplätze in England schafft:

„It seems to me – and I offer this observation in a spirit of friendship – that when a nation’s industrial prowess has plunged so low that it is reliant on Korean firms for its future economic security , then perhaps it is time to readress one’s educational priorities and maybe give a little thought to what’s going to put some food on the table in about 2010.“

Eine schöne Analyse, die man in dieser oder ähnlicher Form in den hiesigen Gazetten lesen kann. Nur, das Buch ist eben von 1993!

Ehrendoktor und Universitätskanzler war er schon. Die Forderung kann deshalb nur lauten: Bill Bryson for Govenor of the Bank of England!

Bill Bryson: Notes from a small Island, Black Swan Books 1993, deutsch: Reif für die Insel

Von Hahnenzüchter bis Heidenreihe: Röhren-Poesie

P1020298Ich fahre gern von Eichhof West ab. Manchmal nehme ich auch den Zug von Gemeinsam Aalen oder Eichhof Stadt. Dann steige ich in die blaue Nimm-Dill-Linie und fahre über Hammerschmied und Ritterbrücke bis zum Nimm-Dill-Zirkus. Meist aber bevorzuge ich die rote Zentral-Linie und fahre über Hirtenbusch und Marmor-Bogen und bis zum Ochsenfurt-Zirkus. Neulich musste ich dort umsteigen in die braune Bäcker-WC-Linie, weil ich nach Wasserklo musste. Zum Glück war mein Ziel nicht Schinkenklatschen-Süd, sonst hätte ich in Elefant&Burg noch einmal umsteigen müssen.

Washatterdennjetzt? Großen Spaß hat er. Und zwar am berühmtesten U-Bahn-Netzplan der Welt. Es ist immer noch das vertraute – der Kunstbeflissene sagt: ikonische – Design des Grafikers Harry Beck aus dem Jahr 1931. Aber in diesem Fall sind die Namen der Linien und Haltestellen originalgetreu – ich möchte sagen: gnadenlos – ins Deutsche übertragen. Sämtliche 270 Stationen! Vollbracht hat dieses Mammutwerk von nachgerade griechisch-mythischen Ausmaßen der Österreicher Horst Prillinger. Das war schon vor geraumer Zeit, aber erst jetzt bin ich darauf gestoßen (worden. Dank an Maren für den Hinweis).

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(c) Diese(s) Werk bzw. Inhalt von Horst Prillinger steht unter einer Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Österreich Lizenz.

„Ich erinnere mich düster, dass mich die Wiener U-Bahn-Station Siebenhirten an Seven Sisters in London erinnert hat,“ schreibt mir der Held dieser übersetzerischen Großtat. Mit der Idee im Kopf habe er zuerst mal die Wiener U-Bahn-Karte ins Englische übersetzt. „Danach war es irgendwie logisch, zu versuchen, die Londoner Karte ins Deutsche zu übersetzen.“ – Um diese Logik nachzuvollziehen, hilft es zu wissen, dass er zu dieser Zeit mit Grippe im Bett lag.

Nun hat er aber die Namen nicht einfach irgendwie ins Deutsche geschubst, denn von Hause aus ist Horst Prillinger Bibliothekar und sieht sich somit einer gewissen linguistischen Akkuratesse verpflichtet. So zog er zum einen etymologische Standardwerk  What’s in a Name von Cyril Harris heran, das die Bedeutung der Stationsnamen im U-Bahnnetz worthistorisch herleitet. „So bezieht sich „Wimbledon“ tatsächlich auf einen Hügel, der einem gewissen Wunibald gehört hat,“ erklärt er.

Ansonsten habe er entweder wörtlich übersetzt oder die Worte in Teile zerlegt und dann übersetzt – nicht immer ganz korrekt, wie Prillinger zugibt: „aus -ham wurde -schinken anstatt -heim. Und auch klanglich war es nicht immer exakt, wie ein Linguist bemerkt hat, der meine Karte wegen phonetischer Ungenauigkeiten ziemlich zerrissen hat.“ Manchmal habe er auch schlicht frei assoziiert, Regeln hab er nicht gehabt, schließlich musste um jeden Preis ein Wort her.

OLYMPUS DIGITAL CAMERADas Ergebnis ist reinste Poesie. Für die Übersetzung habe er mehrere Tage gebraucht, schreibt Horst Prillinger noch, und wie jeder wahre Künstler, zeigt er sich mit dem Ergebnis nicht vollkommen zufrieden: „Eigentlich sollte ich die Karte dringend überarbeiten, weil ich inzwischen einige bessere Übersetzungen gefunden habe.“

Da mag sich nun der eine oder die andere am Kopfe kratzen über die Frage nach dem tieferen Sinn eines solchen Unterfangens. Dem- oder Derjenigen sei empfohlen, das Werk einfach in Ruhe einen Augenblick lang zu studieren. Wer sich nicht binnen kürzester Zeit beim vergnüglichen Versuch ertappt, die germanisierten Namen zurück zu übersetzen, der… nun… bekommt sein Geld zurück.

Also denn: Zwei Tickets zum Flughafen Heindenreihe, bitte.

Mind the Gap! – In alle Ewigkeit…

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Wenn sie die Stimme ihres Mannes hören wollte, stieg sie die Treppen zur Tube-Station Embankment hinab und wartete auf den nächsten Zug. „Mind the gap between the train and the platform“ tönte es dann aus den Lautsprechern, um die Passagiere vor der Lücke an der Bahnsteigkante zu warnen.

Embankment war die letzte Londoner U-Bahn-Station, in der die die Ansage des Schauspielers Oswald Laurence noch zu hören war. Schließlich aber wurde sie auch dort abgeschaltet, wie an allen anderen Stationen zuvor.

Seine Witwe bat daraufhin Transport for London um eine Kopie des über 40 Jahre alten Tonbandes als Erinnerung an ihren verstorbenen Mann.

Wie die BBC berichtet, waren die Mitarbeiter dort so gerührt von ihrer Geschichte, dass sie nicht nur eine CD mit der Ansage erhielt, sondern künftig die Ansage wieder zu hören sein wird, zumindest in der Station Embankment – in Memoriam…

Neulich in der Tube…

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gesehen in der Piccadilly Line
(c) 2013 Martin Herzog

Wor-tschesster-schairie Soße zwischen Tschisswick und Lässter Square

Mist! An meiner Heimatstation Acton Town aus Versehen in die District Line eingestiegen statt in die Piccadilly Line. Erst in Hammersmith kann ich wieder umsteigen. Während die Piccadilly bis dorthin durchrauscht, hält die grüne Vorort-Linie von Anno 1868 an jeder Milchkanne: Chiswick Park, Turnham Green, Stamford Brook. Die Dame im Lautsprecher kündigt allerdings ganz andere Stationen an, nämlich Tschissik Park, Türnemgrien und Stemmfed Bruck.

Nicht, dass man hier etwa aussteigen wollte. Aber nach dem Übersiedeln in die Piccadilly wird es nicht besser: Gloucester Road steht auf dem Bahnhofsschild. Und was tönt durch den Waggon? „This is Glosster Road“. Später wird die Bahn am Leicester Square halten, dort, wo immer die roten Teppiche für die englischen Filmpremieren ausgerollt werden. Dummerweise wird auch dieser weltberühmte Platz nicht ausgesprochen, wie wir glauben: Lässter Square sagt der Londoner.

Jedes mal, wenn ich hier vorbei komme, muss ich an meine Mutter denken, die zu den seltenen Gelegenheiten, wenn es bei uns Steak gab, mit der Frage: „Möchte jemand dazu Wortschesster-Schier-Soße?“ die zugehörige Flasche aus dem Schrank zog. Selbige wurde sodann unter ungläubigem Kopfschütteln rituell von Hand zu Hand gereicht, auf dass sich jedes Familienmitglied in der mehr oder minder originellen Vertonung dieses Namens versuche. Wie um Himmels Willen sollte das ausgesprochen werden: Worcestershire? Aber offenbar ringen nicht nur wir Teutonen mit der Aussprache dieser Region in den West Midlands.

Ein Aha-Erlebnis in dieser Hinsicht war für mich der Film Shrek III, in dem der Held und sein Begleiter Donkey den künftigen König Arthur von seiner Penne abholen sollen, die in einer mittelalterlichen Burg untergebracht ist und den schönen Namen Worcestershire High School trägt. Langsam, und Silbe für Silbe liest Donkey von dem Schild über der Zugbrücke ab: „Wor-ßes-Ter-Schei-Rie“. Offenbar haben auch die Muttersprachler vom anderen Ende des Atlantiks so ihre Probleme mit englischen Eigennamen (wie vermutlich Australier, Neuseeländer und alle anderen nativ englischsprachigen Völker dieser Erde). Die korrekte Aussprache hat auf den ersten Blick recht wenig mit dem gedruckten Wort zu tun – Wuußtersche wird es ausgesprochen, mit tonlosem, kurzem E am Ende.

Wer sich in London bewegt, stößt andauernd auf solche phonetischen Herausvorderungen. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit habe ich deshalb hier eine Reihe von Orts- und Eigennamen aufgeführt, sowie einige weitere Besonderheiten, deren Aussprache nicht mit den sonst üblichen Regelungen des Englischen zu tun haben. Vermutlich historisch unter dem Eindruck eines entsprechenden örtlichen Idiom entwickelt, haben sie sich erhalten, und machen Nicht-Einheimischen das Leben schwer.

Aber keine Panik! Die englische Uschi, die in unserem Auto-Navi wohnt, spricht Chiswick auch nicht richtig aus. Offenbar sind selbst innerhalb Englands die jeweiligen Namen nicht so weit verbreitet, dass es für jeden Eingeborenen selbstverständlich wäre. Und für einige Endungen gibt es sogar wieder eigene Regeln, die sich auf andere Fälle anwenden lassen:

Brook(s) = Bruck (kurz gesprochen), Stemford Brook = Stemfed (siehe unten) Bruck; auch bei Eigennamen: Rebekah Brooks = Rebeckah Brucks

Chiswick = Tschissick (ein Londoner Stadtviertel)

Edinburgh = Edinbre (mit kurzem, tonlosem kurzem E am Ende)

Endung -ham = -em (mit kurzem, tonlosem kurzem E): Fulham = Fullem, Nottingham = Nottingem, Tottenham = Tottenem, auch Eigennamen wie Abraham = Äibrem oder Graham = Gräi‘em

Endung -mouth = -meth (kurz gesprochen): Plymouth = Plimmeth, Bournemouth = Bornmeth, Portsmouth = Portsmeth

Endung -ord = ed (mit kurzem, tonlosem E): Stamford = Stemmfed, Woodford = Wudfed, Oxford = Oxfed

Endung -shire = -sche (mit tonlosem, kurzem E am Ende): Gloucestershire = Glosstersche, Worcestershire = Wuußtersche

Endung -wich = -itch (W wird nicht gesprochen): Norwich = Norritsch

Endung -wick = -ick (W wird nicht gesprochen): Chiswick = Tschissick, Warwick Avenue = Uorrick Avenue

Gloucester Road = Glosster Road

High Wycombe = High Uickomm (Städtchen westlich von London)

Holborn = Hoben (Londoner Stadtviertel)

Leicester Square = Lässter Square (großer Platz mit West-End-Kinos)

Leonhard = Lennerd

Southern = ssathern (im Gegensatz zum Substantiv south = south)

Worcestershire = Uooßtersche (mit kurzem E am Ende)

Modern = modden

Southern = ssathern (im Gegensatz zum Substantiv south = south)

Korrekturen und Vorschläge für Erweiterungen sind natürlich jederzeit willkommen…

Stets gut beraten ist…

…wer in den Londoner Tube-Stationen nicht achtlos an den handbeschrifteten Aufstellern mit den Informationen und Warnungen vorbei geht. Die sind nämlich oft nicht bloß schnöde Hinweis-Tafeln mit den üblichen Betriebsstörungen im U-Bahnnetz, sondern oftmals höchst persönliches Ausdrucks-Medium des jeweiligen Stationschefs. Von Bibel- und Kalender-Sprüchen zur morgendlichen Erbauung der Fahrgäste, über philosophische Kurzbetrachtungen der Weltläufte, bis zu Kommentaren der aktuellen Tagesereignisse und Handreichungen im Dschungel moderner Technik – so wie gestern hier (entnommen dem Evening Standard vom 21.9.2012):

For the benefit uf passengers using Apple iOS 6, local area maps are available from the booking office.

Die Suche nach London Bridge führt im neuesten Karten-App von Apple zum Buckingham Palace, während sich mit dem Stichwort Brockeley Cemetry Big Ben und Westminster Bridge finden lässt. Neben zahllosen Schreibfehlern tauchen  zudem allerlei Orts- und Straßennamen auf, die spätestens seit Charles Dickens‘ Zeiten niemand mehr benutzt hat (siehe: Apple’s rotten map of London).

Da behaupte noch mal jemand, in einer großen Stadt kümmere sich niemand um die Sorgen seines Nachbarn…