„Wir könnten morgen den Christmas Walk machen,“ hatte ich gestern vorgeschlagen, etwas leichtsinnig, wie sich herausstellte. Die Stadtführungen des ebenso kleinen wie äußerst beliebten Familien-Unternehmens London Walks haben wir sicher schon mehr als ein dutzend Mal mitgemacht, vor allem zu Beginn unserer Zeit hier. Weil diese Stadt viel zu groß ist, und viel zu sehr durchtränkt von zweitausend Jahren Geschichte, tut man als London-Interessierter gut daran, sich einzelne Themen herauszusuchen, um sich einen groben Überblick zu verschaffen – bestimmte Stadtteile, Epochen, berühmte Söhne und Töchter der Stadt. So haben wir mit London Walks Little Venice kennen gelernt, in Highgate die Promihäuser (Kate Moss, George Michael, Jude Law) und -Gräber (Karl Marx, Douglas Adams) abgeklappert, haben das London von Shakespeare, Charles Dickens und Oscar Wilde erkundet, und sind á la 007 den Spuren der Spione in Mayfair gefolgt. Bei den Stadtführern handelt es sich oft um Schauspieler, Journalisten, oder glernte Historiker, und sie servieren ihre Führungen mit viel Hintergrundwissen, reichlich Anekdoten, und gewürzt mit noch mehr britischem Humor. Anmeldung nicht nötig, einfach hingehen, 9 Pfund bezahlen, zwei Stunden mitlaufen und eine gute Zeit haben. Wunderbar.
Zur Führung am Weihnachtstag, so heißt es auf der entsprechenden Internet-Seite, treffe man sich am großen Christbaum auf Trafalgar Square, woselbst während eines Spaziergangs im Regierungsviertel Whitelhall das Leben und Wirken von Samuel Pepys beleuchtet, und aus dessen teils saftigen Tagebüchern zitiert werde. Warum an diesem Tag gerade dieser recht unbekannte Zeitgenosse Oliver Cromwells? Nun, er beschreibt unter anderem die ersten Weihnachten nach Wiedererrichtung der englischen Monarchie 1660, als es 10 Jahre lang verboten war, das christliche Wiegenfest zu feiern. Pepys (aus unerfindlichen Gründen spricht der sich Peeps aus) hat die Hinrichtung Charles I. gesehen, den Pestausbruch über-, und das große Feuer miterlebt, das London 1666 völlig zerstörte, daneben hat er zahlreiche außereheliche Affären gehabt, über die er in seinem Tagebuch detailreich berichtet, auch saß er zeitweise hinter Gittern. Klingt nach einem großartigen Weihnachtsmorgen, also hin! Ist auch nicht allzu früh: Um 11 Uhr soll es los gehen, da müssen wir uns erst gegen 10 auf den Weg zur Tube machen…
Halt! Da war was. Vorsichtshalber mal einen Blick auf die Seite von Transport for London (TfL) werfen, den hiesigen kommunalen Verkehrsbetrieb. Und tatsächlich, bei allen Linien steht da lapidar: Service closed. Das gesamte Londoner U-Bahnnetz ist heute außer Betrieb. Busse? Nope! Oder doch, ein paar sollen tatsächlich fahren. Um von unserem Haus in West London zum 13 Kilometer entfernten Trafalgar Square zu gelangen, schlägt der TfL-Routenplaner vor, man möge zu Fuß bis nach Turnham Green laufen (42 Minuten), die Linie 27 nehmen bis zur Hampstead Road (32 Minuten), und sodann mit der Linie 24 bis Trafagar Square fahren. Gesamt-Reisezeit: 1 Stunde 37. Auch wenn wir heute nicht unter Zeitdruck sind, keine echte Option. Flunsch!
Die Tour möchten wir trotzdem mitmachen. Nach einer Weile keimt eine Idee in uns, zugegeben eine völlig irre Idee. Sollen wir es wagen? Dürfen wir wirklich erwarten, es bis nach Central London zu schaffen? Und dann auch noch rechtzeitig zum Beginn der Führung anzukommen, all den Unwägbarkeiten zum Trotz? Nein, zu kühn scheint uns dieser Gedanke, absurd geradezu.
Auf der anderen Seite wissen wir aus der Weihnachtserfahrung verganger Jahre: Heute hat alles, wirklich alles geschlossen: Geschäfte, Restaurants, Theater, Museen, Touri-Attraktionen – alles, alles dicht. Büros und Banken natürlich sowieso. Selbst beim 24/7-Tesco bei uns auf der Ecke, der sonst immerimmerimmer geöffnet ist, sind die Rolladen herunter gelassen. London: heute geschlossen.
Dass eine Weltstadt wie London komplett zumacht, ist nicht nur für Zugereiste kaum zu fassen. Auch die Londoner sind davon alle Jahre wieder auf’s Neue bass erstaunt. Wie es eine Kolumnistin im Guardian ausdrückt: Man weiß, dass es kommen wird, aber man kann es nicht glauben. Bis er tatsächlich passiert, der Christmas Tranport Shutdown.
Wer schon einmal in New York war, weiß, dass Frankie Sinatra kein bißchen übertrieben hat, als er von der ‚City that never sleeps‘ sang. Der Unterschied der Einkauftour um 3 Uhr Nachmittags von der um 3 Uhr nachts besteht hauptsächlich in der Beleuchtung. In London dagegen ist zumindest unter der Woche ab 11 Uhr Feierabend, wenn der Mann hinterm Tresen zur letzten Runde läuet. Essen wird in Pubs üblicherweise bis 21 Uhr serviert, selten bis 22 Uhr, Restaurants sind eine Stunde später dicht. Wer danach versucht, etwas Essbares aufzutreiben, jenseits von Döner und Burger, der hat’s schwer. Und auch über das Nachhausekommen sollte man sich dann gesteigert Gedanken machen, denn spätestens um halb eins gehen die Gitter an den Tube-Stationen zu. Letzteres soll ab nächstem Jahr geändert werden, immerhin. Dann soll die U-Bahn wenigstens am Wochenende auch nachts fahren.
Weihnachten ist dieses Prinzip konsequent zuende gedacht. Dem entsprechend unternimmt der Londoner auch nichts an diesem Tag, sondern verbringt ihn – abgesehen von gelegentlichen Fress-Intermezzi – mehr oder minder regungslos auf der Couch vor dem ‚Telly‘ in mehr oder weniger willkommener Anwesenheit Familie. Also ganz so wie der Deutsche, vielleicht mit dem Unterschied einer insgesamt eher fatalistischen Haltung. Das willenlose Fügen in das Unausweichliche scheint dem Angelsachsen eher zu liegen als die „Jetzt-machen-wir-es-uns-aber-gemütlich“-Entschiedenheit von letzterem, dessen unbedingter Wille zur Weihnachts-Harmonie zuverlässig in Mord und Totschlag mündet. Aber ich schweife ab.
Der Londoner jedenfalls ist heute nicht in London, oder wenigstens nicht auf der Straße. Mit dem Mut der Verzweifelung beschließen wir also, es zu wagen: Wir machen ganz was Verrücktes und fahren mit dem Auto nach London! Mitten hienein ins Zentrum. Crazy! Das ganze ist nicht ganz ohne Risiko. Meine wenigen Versuche bis dato führten stets zu Schreikrämpfen, ausgerissenen Haarbüscheln und Bisspuren im Lenkrad – was selbstredend nicht etwa an fehlendem Langmut meinerseits liegt, sondern an einem filigranen Zusammenspiel aus extrem hohem Verkehraufkommen, hirnrissiger Verkehrsplanung, absurden Ampelschaltungen, völlig verwinkelten Straßenzügen, Dauerbaustellen, und der wenig disziplinierten Fahrweise der Londoner (um es zurückhaltend auszudrücken).
Heute aber, heute ist es anders. Ganz anders. Nicht nur, weil wir die berüchtigte Congestion Charge nicht fürchten müssen, jene Gebühr von mittlerweile 11,50 Pfund pro Tag, um die Privat-Droschke in die Londoner Innenstadt lenken zu dürfen. So nähern wir uns entlang Kensington Gardens, Hyde Park und Marble Arch zunächst der Einkaufsstraße Oxford Street, der notorischsten unter den neuralgischen Straßen Londons. Doch siehe: Außer ein paar Taxis nur wenige andere Autos, die Ampeln fast alle auf Grün, und kein einziger jener ebenso ansehnlichen wie sperrigen Doppeldeckerbusse in Sicht, die sich sonst in unendlicher Reihe, Stoßstange an Stoßstange an den Selfridges, John Lewis, M&S und H&M vorbeischieben, kaum einen Schritt schneller als die gestressten Fußgänger auf dem Bürgersteig. Stattdessen nachgerade idyllische Ruhe. Da behaupte noch einmal jemand, es gebe heute keine Wunder mehr.
Das gleiche Bild auf der sonst überfüllten Regent Street, am stets hysterischen Piccadilly Circus, selbst Trafalgar Square umrunden wir problemlos. Fahrzeit insgesamt: 21 Minuten. Für die gleiche Strecke darf man an jedem anderen Tag im Jahr zu fast jeder Uhrzeit problemlos den Faktor 4 ansetzen. Wir können unser Glück kaum fassen.
Am Viktoria Embankment eröffnet sich zu allem Überfluss eine kostenlose (!!!) Parkpmöglichkeit, und wir finden uns tatsächlich pünktlich zum Beginn der Führung unterm Christbaum auf dem Trafalgar Square ein. Die Sonne scheint, bei 8 Grad kann man im Wintermantel den Ausführungen zum Leben und Sterben im 17. Jahrhundert ohne Fröstelattacken folgen. Und das sonst so krakeelige London zeigt sich friedlich.
Natürlich ist nichts auf dieser Welt für die Ewigkeit, Weihnachten schon gar nicht. Morgen schon ist Boxing Day. Heute aber genießen wir es. Welch eine Bescherung!