London: Heute geschlossen!

1-IMG_7316„Wir könnten morgen den Christmas Walk machen,“ hatte ich gestern vorgeschlagen, etwas leichtsinnig, wie sich herausstellte. Die Stadtführungen des ebenso kleinen wie äußerst beliebten Familien-Unternehmens London Walks haben wir sicher schon mehr als ein dutzend Mal mitgemacht, vor allem zu Beginn unserer Zeit hier. Weil diese Stadt viel zu groß ist, und viel zu sehr durchtränkt von zweitausend Jahren Geschichte, tut man als London-Interessierter gut daran, sich einzelne Themen herauszusuchen,  um sich einen groben Überblick zu verschaffen – bestimmte Stadtteile, Epochen, berühmte Söhne und Töchter der Stadt. So haben wir mit London Walks Little Venice kennen gelernt, in Highgate  die Promihäuser (Kate Moss, George Michael, Jude Law) und -Gräber (Karl Marx, Douglas Adams) abgeklappert, haben das London von Shakespeare, Charles Dickens und Oscar Wilde erkundet, und sind á la 007 den Spuren der Spione in Mayfair gefolgt. Bei den Stadtführern handelt es sich oft um Schauspieler, Journalisten, oder glernte Historiker, und sie servieren ihre Führungen mit viel Hintergrundwissen, reichlich Anekdoten, und gewürzt mit noch mehr britischem Humor. Anmeldung nicht nötig, einfach hingehen, 9 Pfund bezahlen, zwei Stunden mitlaufen und eine gute Zeit haben. Wunderbar.

Zur Führung am Weihnachtstag, so heißt es auf der entsprechenden Internet-Seite, treffe man sich am großen Christbaum auf Trafalgar Square, woselbst während eines Spaziergangs im Regierungsviertel Whitelhall das Leben und Wirken von Samuel Pepys beleuchtet, und aus dessen teils saftigen Tagebüchern zitiert werde. Warum an diesem Tag gerade dieser recht unbekannte Zeitgenosse Oliver Cromwells? Nun, er beschreibt unter anderem die ersten Weihnachten nach Wiedererrichtung der englischen Monarchie 1660, als es 10 Jahre lang verboten war, das christliche Wiegenfest zu feiern. Pepys (aus unerfindlichen Gründen spricht der sich Peeps aus) hat die Hinrichtung Charles I. gesehen, den Pestausbruch über-, und das große Feuer miterlebt, das London 1666 völlig zerstörte, daneben hat er zahlreiche außereheliche Affären gehabt, über die er in seinem Tagebuch detailreich berichtet, auch  saß er zeitweise hinter Gittern. Klingt nach einem großartigen Weihnachtsmorgen, also hin! Ist auch nicht allzu früh: Um 11 Uhr soll es los gehen, da müssen wir uns erst gegen 10 auf den Weg zur Tube machen…

Halt! Da war was. Vorsichtshalber mal einen Blick auf die Seite von Transport for London (TfL) werfen, den hiesigen kommunalen Verkehrsbetrieb. Und tatsächlich, bei allen Linien steht da lapidar: Service closed. Das gesamte Londoner U-Bahnnetz ist heute außer Betrieb. Busse? Nope! Oder doch, ein paar sollen tatsächlich fahren. Um von unserem Haus in West London zum 13 Kilometer entfernten Trafalgar Square zu gelangen, schlägt der TfL-Routenplaner vor, man möge zu Fuß bis nach Turnham Green laufen (42 Minuten), die Linie 27 nehmen bis zur Hampstead Road (32 Minuten), und sodann mit der Linie 24 bis Trafagar Square fahren. Gesamt-Reisezeit: 1 Stunde 37. Auch wenn wir heute nicht unter Zeitdruck sind, keine echte Option. Flunsch!

1-IMG_7322Die Tour möchten wir trotzdem mitmachen. Nach einer Weile keimt eine Idee in uns, zugegeben eine völlig irre Idee. Sollen wir es wagen? Dürfen wir wirklich erwarten, es bis nach Central London zu schaffen? Und dann auch noch rechtzeitig zum Beginn der Führung anzukommen, all den Unwägbarkeiten zum Trotz? Nein, zu kühn scheint uns dieser Gedanke, absurd geradezu.

Auf der anderen Seite wissen wir aus der Weihnachtserfahrung verganger Jahre: Heute hat alles, wirklich alles geschlossen: Geschäfte, Restaurants, Theater, Museen, Touri-Attraktionen – alles, alles dicht. Büros und Banken natürlich sowieso. Selbst beim 24/7-Tesco bei uns auf der Ecke, der sonst immerimmerimmer geöffnet ist, sind die Rolladen herunter gelassen. London: heute geschlossen.

Dass eine Weltstadt wie London komplett zumacht, ist nicht nur für Zugereiste kaum zu fassen. Auch die Londoner sind davon alle Jahre wieder auf’s Neue bass erstaunt. Wie es eine Kolumnistin im Guardian ausdrückt: Man weiß, dass es kommen wird, aber man kann es nicht glauben. Bis er tatsächlich passiert, der Christmas Tranport Shutdown.

Wer schon einmal in New York war, weiß, dass Frankie Sinatra kein bißchen übertrieben hat, als er von der ‚City that never sleeps‘ sang. Der Unterschied der Einkauftour um 3 Uhr Nachmittags von der um 3 Uhr nachts besteht hauptsächlich in der Beleuchtung. In London dagegen ist zumindest unter der Woche ab 11 Uhr Feierabend, wenn der Mann hinterm Tresen zur letzten Runde läuet. Essen wird in Pubs üblicherweise bis 21 Uhr serviert, selten bis 22 Uhr, Restaurants sind eine Stunde später dicht. Wer danach versucht, etwas Essbares aufzutreiben, jenseits von Döner und Burger, der hat’s schwer. Und auch über das Nachhausekommen sollte man sich dann gesteigert Gedanken machen, denn spätestens um halb eins gehen die Gitter an den Tube-Stationen zu. Letzteres soll ab nächstem Jahr geändert werden, immerhin. Dann soll die U-Bahn wenigstens am Wochenende auch nachts fahren.

Weihnachten ist dieses Prinzip konsequent zuende gedacht. Dem entsprechend unternimmt der Londoner auch nichts an diesem Tag, sondern verbringt ihn – abgesehen von gelegentlichen Fress-Intermezzi – mehr oder minder regungslos auf der Couch vor dem ‚Telly‘ in mehr oder weniger willkommener Anwesenheit Familie. Also ganz so wie der Deutsche, vielleicht mit dem Unterschied einer insgesamt eher fatalistischen Haltung. Das willenlose Fügen in das Unausweichliche scheint dem Angelsachsen eher zu liegen als die „Jetzt-machen-wir-es-uns-aber-gemütlich“-Entschiedenheit von letzterem, dessen unbedingter Wille zur Weihnachts-Harmonie zuverlässig in Mord und Totschlag mündet. Aber ich schweife ab.

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Idyllischer Friede am Trafalgar Square. Alle Fotos in diesem Artikel (c) Martin Herzog 2014

Der Londoner jedenfalls ist heute nicht in London, oder wenigstens nicht auf der Straße. Mit dem Mut der Verzweifelung beschließen wir also, es zu wagen: Wir machen ganz was Verrücktes und fahren mit dem Auto nach London! Mitten hienein ins Zentrum. Crazy! Das ganze ist nicht ganz ohne Risiko. Meine wenigen Versuche bis dato führten stets zu Schreikrämpfen, ausgerissenen Haarbüscheln und Bisspuren im Lenkrad – was selbstredend nicht etwa an fehlendem Langmut meinerseits liegt, sondern an einem filigranen Zusammenspiel aus extrem hohem Verkehraufkommen, hirnrissiger Verkehrsplanung, absurden Ampelschaltungen, völlig verwinkelten Straßenzügen, Dauerbaustellen, und der wenig disziplinierten Fahrweise der Londoner (um es zurückhaltend auszudrücken).

Heute aber, heute ist es anders. Ganz anders. Nicht nur, weil wir die berüchtigte Congestion Charge nicht fürchten müssen, jene Gebühr von mittlerweile 11,50 Pfund pro Tag, um die Privat-Droschke in die Londoner Innenstadt lenken zu dürfen. So nähern wir uns entlang Kensington Gardens, Hyde Park und Marble Arch zunächst der Einkaufsstraße Oxford Street, der notorischsten unter den neuralgischen Straßen Londons. Doch siehe: Außer ein paar Taxis nur wenige andere Autos, die Ampeln fast alle auf Grün, und kein einziger jener ebenso ansehnlichen wie sperrigen Doppeldeckerbusse in Sicht, die sich sonst in unendlicher Reihe, Stoßstange an Stoßstange an den Selfridges, John Lewis, M&S und H&M vorbeischieben, kaum einen Schritt schneller als die gestressten Fußgänger auf dem Bürgersteig. Stattdessen nachgerade idyllische Ruhe. Da behaupte noch einmal jemand, es gebe heute keine Wunder mehr.

Das gleiche Bild auf der sonst überfüllten Regent Street, am stets hysterischen Piccadilly Circus, selbst Trafalgar Square umrunden wir problemlos. Fahrzeit insgesamt: 21 Minuten. Für die gleiche Strecke darf man an jedem anderen Tag im Jahr zu fast jeder Uhrzeit problemlos den Faktor 4 ansetzen. Wir können unser Glück kaum fassen.

1-IMG_7304Am Viktoria Embankment eröffnet sich zu allem Überfluss eine kostenlose (!!!) Parkpmöglichkeit, und wir finden uns tatsächlich pünktlich zum Beginn der Führung unterm Christbaum auf dem Trafalgar Square ein. Die Sonne scheint, bei 8 Grad kann man im Wintermantel den Ausführungen zum Leben und Sterben im 17. Jahrhundert ohne Fröstelattacken folgen. Und das sonst so krakeelige London zeigt sich friedlich.

Natürlich ist nichts auf dieser Welt für die Ewigkeit, Weihnachten schon gar nicht. Morgen schon ist Boxing Day. Heute aber genießen wir es. Welch eine Bescherung!

Bücher über London: Fettnäpfchenführer

9783943176735_400Wer jemals bei Funk oder Fernsehen gearbeitet hat, der weiß: Hier wird das Medium täglich neu erfunden. Jede Sendung muss jeden Tag ganz anders, ganz frisch sein. Die Erzählform, die (Bild-)sprache, die Herangehensweise – alles so, wie man es noch nie gesehen, nie gehört hat. Das Endprodukt sieht dann meistens aus wie immer. Aber morgen dann ganz bestimmt…

In Teilen der ‚holzverarbeitenden Industrie‘ (Willy Brandt) sieht es in dieser Hinsicht noch etwas entspannter aus, aber auch da muss ab und zu mal was Neues her. Das gilt für die Tagespresse natürlich, ebenso für Wochen- und Monatsmagazine, aber auch für längerfristige, umfangreichere Vorhaben wie zum Beispiel Reiseführer. Derer gibt es viele, und London ist womöglich diejenige Stadt, die reiseführertechnisch den Rekord hält, zumindest im deutschen Sprachraum: 1009 Ergebnisse spuckt Amazon aus. Neben den üblichen Marco-Polo-Baedecker-DuMont-Polyglott-ADAC-Lonely-Planet-Überblicks-Guides findet sich London mit Kindern, Indisch Essen in London, Der perfekte Mädelsurlaub in London, Mit Sherlock Holmes durch London, und natürlich auch eine Kneipentour durch London. Schwer, da noch irgendetwas mit einem neuen Dreh zu finden, einem neuen Zugang, einer neuen Erzählform, die London dann auch in einem anderen Licht zeigt.

Der Fettnäpfchenführer London des Reisejournalisten Michael Pohl ist so ein Versuch. Ein geglückter? Nun ja, zum Teil. Da ist zum einen der Titel. Gleich im Vorwort räumt der Autor ein, dass es um die Fettnäpfchen in Großbritannien nicht so arg bestellt ist: „Man wird einen Aufenthalt in London auch irgendwie überstehen, wenn man sich mit den kulturellen Besonderheiten der Briten nicht auskennt. Aber lernt man dann eine Stadt wirklich kennen?“ Vermutlich nicht. Aber außer Allerwelts-Hinweisen für den Pub-Besuch (es muss an der Theke bestellt und bezahlt werden), ist das Thema Fettnäpfchen in dem Buch anfangs seltsam unterrepräsentiert.

Spannend und erhellend hätte da ein Kapitel über die zahlreichen Fallen und Fettnäpfchen sein können, die den Touristen/Zugereisten in der täglichen Kommunikation mit Engländern erwarten. Denn anders als in anderen Teilen der Erde, wo der kulturelle und sprachliche Unterschied unübersehbar ist, führt gerade die vermeintliche kulturelle Nähe zum angelsächsischen Sprachraum den schlicht geradeaus denkenden Teutonen geradewegs in die wunderbarsten Missverständnisse (’not bad,‘ sagt der Engländer, und der Deutsche versteht ’nicht schlecht‘. Gemeint ist aber ‚terrible‘. Nicht schlecht würde stattdessen heißen ’not bad at all‘. Feine, aber wichtige Unterschiede. Eine kleine Übersicht über typisch englisch-internationale Sprach-Fettnäpfchen habe ich hier zusammengestellt). Auch ein paar Sätze über die lokale Aussprache von Eigennamen hätte durchaus praktischn Nutzen gezeitigt (wem zum Beispiel auf die Frage nach der Tate Modern Gallery beschieden wird, diese befinde sich in ‚Ssethek‘, der wird daraus schwer entziffern können, dass das Stadtviertel Southwark gemeint ist – ein Artikel zur englischen Aussprache und Schreibweise gibt es hier). Stattdessen findet sich im Fettnäpfchenführer nur die Warnung, Gespräche mit den Eingeborenen der Insel möglichst stets unter Umschiffung von Politik und besserwisserischer Belehrung zu führen, solange diese nicht selbst auf das Thema zu sprechen kommen  – eine Bemerkung, die auch in jedem konventionellen Reiseführer zu finden ist.

Das zweite Problem des Buches ist der Versuch, durch reportageartige Elemente die typische, statische Erzähl-Form des Reiseführers zu durchbrechen, per Erlebnisbericht aufzulockern und persönlicher zu machen. Hierfür hat sich Journalist Pohl ein alter Ego zugelegt, Fabian, eine fiktive Person, die ziemlich – aber nicht ganz – mit der Person des Autoren übereinstimmen soll. Wofür dieser Winkelzug gut sein soll, verrät er nicht. Ich vermute aber mal böswillig, dass dieser fiktive Fabian auch manche fiktive Geschichte beschreibt, die der Autor so nicht, oder nicht so pointiert erlebt hat bei seinen London-Besuchen, und er sich auf diese Weise journalistisch ‚ehrlich macht‘ , wie das so schön heißt. Nur fragt man sich lange Zeit: Wozu? In den ersten Kapiteln kommt Fabian kaum zu Wort. Das, was er beschreibt ist nichts Spezifisches, es handelt sich nicht um echte Anekdoten, und bringt nur wenig Erkenntnisgewinn (so zum Beispiel ein Abschnitt über das Zählen der königlichen Schwäne auf der Themse, das seltsam detailarm erzählt wird). Vielmehr entsteht der Eindruck, als sei die Figur nachträglich eingeschmuggelt worden, um die Erzählung aufzupeppen, die vom Aufbau ansonsten eher in den Fußstapfen konventioneller Reiseführer folgt: Allgemeines über London, Anreise, Verkehrsmittel, Unterkunft, Der Londoner an sich, die Königsfamilie, Pubs, Shopping, Gentlemen’s Clubs etc. Lnge Zeit scheint der Führer selbst ein wenig orientierungslos zu sein, zumindest was die eigene Richtung betrifft.

Interessanterweise verliert sich diese nicht-Fisch-nicht-Fleisch-Struktur, je weiter das Buch vorankommt – offenbar nachdem der Autor das Pflichtprogramm samt der üblichen Tipps-und-Tricks (Nutzwert! Nutzwert!) abgearbeitet hat: Die Reportage-Elemente werden länger, spannender, und sind näher dran am Leben. Und es gibt einiges zu lernen, auch wenn man schon ein bißchen was über London weiß. So ist das Kapitel über die britischen Währungen (sic!) sehr aufschlussreich, auch wenn mancher bereits wissen dürfte, dass in Schottland separate Pfundnoten gedruckt werden, die in England nicht anerkannt werden. Ebenso das Kapitel über den Musical-Besuch und die Hintergründe zum dort nicht vorhandenen Dresscode, ist gut erzählt und aufschlussreich. An solchen Stellen kommen denn auch endlich mal der Titel und die anekdotische Erzählweise sinnvoll zusammen. Wenn daran irgendetwas zu bemängeln ist, dann höchstens, dass die Kapitel oft arg kurz gehalten sind, man gern noch ein paar Absätze mehr gelesen hätte.

„Da ist schon viel schönes dabei“, sagt der Fernseh-Redakteur zum Autoren, wenn er ihm schonend beibringen will, dass letzterer den gesamten Film umschneiden soll. In etwa so fällt leider das Gesamturteil beim Fettnäpfchenführer aus, trotz einer Reihe schöner Einfälle und Geschichten vor allem im hinteren Teil.  Gegenüber klassischen Reiseführern bleibt er optisch zurück (die Seiten sind arg spartanisch möbliert), ebenso in Sachen Nutzwert. Gegen andere alternative London-Führer wie 111 Gründe London zu lieben, die im Plauderton über die britische Hauptstadt und ihre Bewohner berichten und en passant den einen oder anderen Tipp transportieren, ist der Fettnäpfchenführer etwas sehr kurz angebunden.

Mit seinem Preis von knapp unter 10 Euro ist das Buch wohl auf den klassischen Mitnahme-Kunden ausgerichtet, der in der Buchhandlung sich neben dem ’normalen‘ Reiseführer noch ein wenig leichte Reisekost einpacken bzw. zuschicken lässt („dieses Buch könnte sie ebenfalls interessieren…“). In diesem Segment dürfte das Buch seine Kunden finden – gerade jetzt zur Weihnachtszeit.

Michael Pohl: Fettnäpfchenführer London – Ein Reiseknigge für das größte Dorf Englands – Stadt-Edition, Conbook Medien-Verlag 2014, 320 Seiten, 9,95 Euro

Für diese Rezension wurde dem Verfasser vom Verlag ein Exemplar des Buches zur Verfügung gestellt.

Reinschauen: Der Club der drögen Gentlemen

Leland Carlson ist hin und hergerissen: Eigentlich ist das alles zu viel Aufregung. „Wir waren ziemlich überrascht von den Reaktionen, es ist fast beängstigend. Wir müssen uns mal ein paar Tage Auszeit gönnen von all der Aufmerksamkeit der Medien. Nach dem Interview werde ich erst mal zu einem Freund hier um die Ecke gehen, und mich ein bißchen hinlegen.“

Leland Carlson, Gründer und Aushilfs-Vize-Präsident des Dull Men Club (c) Martin Herzog 2014

Leland Carlson, Gründer und stellvertretender Vize-Präsident des Dull Men’s Club (c) Martin Herzog 2014

Der stellvertretende Hilfs-Präsident des Dull Men’s Club (das höchste Amt, das der Verein zu vergeben hat) sitzt im Café der Buchhandlung Stanford in Covent Garden und rührt in seinem Milch-Kaffee (entkoffeiniert) und seufzt: „Aber auch das wird vorbei gehen und gemächlichere Zeiten werden kommen.“

Er sagt natürlich nicht gemächlichere Zeiten, er sagt duller times. Das Wort dull bedeutet so viel wie trübe, matt, dumpf, öde, lau. Jemanden als dull zu bezeichnen ist also nicht unbedingt ein Lob. Der Dull Men‘s Club allerdings nennt sich nicht nur so, sondern ist auch noch stolz darauf. Motto: Öde ist das neue Cool.

Für’s kommende Jahr gibt der Dull Men‘s Club einen Kalender heraus, der für einen ziemlichen Presserummel gesorgt hat (eine Fotostrecke mit den Motiven des Kalenders gibt es zum Beispiel hier). Darauf zu sehen: 12 sehr englische Herren mit ihren öden Vorlieben. Vertreten ist zum Beispiel der Milchflaschensammler Steve Wheeler. 20.000 davon besitzt er, obwohl er gar keine keine Milch mag. Einmal im Jahr putzt er sie. Alle. („Aber seine Frau hilft ihm dabei“, sagt Vize-Präsident Carlson). Soeben verkündete der Blog des Dull Men’s Club für seine Verhältnisse einigermaßen Atemlos die Breaking News, dass Steve mit dem anbau eines weiteren Schuppens begonnen habe, um sein privates Milchflaschen-Museum zu erweitern.

Postkasten-Spotter Peter Willis ist im Kalender ebenso vertreten wie David Morgan, der die weltgrößte Sammlung von Verkehrs-Hütchen sein Eigen nennt. Mister Januar im Kalender heißt Kevin Beresford, auch Herr der Ringe genannt. Der 62-Jährige aus Birmingham ist Präsident der Britischen Kreisverkehr-Würdigungs-Gesellschaft.

Bildschirmfoto 2014-11-17 um 21.56.32Wir treffen ihn an seinem Heimat-Kreisel in Redditch in der Grafschaft Worcestershire (man spreche: Oußterscher, mit tonlosem E am Ende): „Es gibt nichts Ausdrucksstärkeres als den ‚Einweg-Rundverkehr‘,“ strahlt er. „Man kann alles mögliche in die Mitte des Kreisverkehrs stellen. Ich habe schon Brunnen gesehen, Statuen, Loks, Boote, Flugzeuge, Kneipen, Kirchen, sogar Windmühlen. Diese Vielseitigkeit macht sie so besonders, und jede Gemeindeverwaltung, die auf sich hält, setzt etwas Besonderes in die Mitte.“ In der (zugegebener Maßen nicht allzu riesigen) Szene der Kreisverkehr-Spotter ist Kevin weltbekannt, Fotos von besonders schönen Exemplaren erreichen ihn aus allen Ländern, „eines sogar aus Strahlsund, mit einem großen Schiffspropeller in der Mitte.“

(c) Kevin Beresford

(c) Kevin Beresford

Neben der bautechnischen Vielfältigkeit entspreche der Kreisverkehr dem britischen Charakter viel mehr als die automatisierten Straßenkreuzungs-Regelsysteme per Lichtzeichen: „Dem Kreisverkehr nähern wir uns in unserer eigenen Geschwindigkeit, nehmen aufeinander Rücksicht, sind höflich zu anderen Autofahren und verständigen uns mit ihnen nach typisch englischer Art – ’nach Dir…‘, ’nein, nach Dir…‘ – anstatt uns von einer Maschine diktieren zu lassen, wann wir zu fahren und wann zu halten haben.“ Soweit jedenfalls die Theorie, die vielleicht hier in Redditch die Realität ein wenig akkurater beschreibt als im Chiswick Roundabout in London.

Hugh Barker, Hecken-Entusiast und Autor des einschlägigen Standardwerkes 'Hedge Britannia' (c) Martin Herzog 2014

Hugh Barker, Hecken-Entusiast und Autor des einschlägigen Standardwerkes ‚Hedge Britannia‘ (c) Martin Herzog 2014

Hugh Barkers Vorliebe gilt der gemeinen Gartenhecke. Sogar ein Buch hat er darüber geschrieben: Hedge Britannia. „Hecken sind ein erstaunlich wichtiger Teil unserer Landschaft. Mich interessiert ihre Geschichte, ihre symbolische Bedeutung, aber auch all die seltsamen Formen, in die manche ihre Hecken trimmen, und was das über die Menschen aussagt – sowohl das Alberne wie das Ernste.“

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(c) Hugh Barker

Dafür haben ihn die Medien zum „Langweiligsten Londoner“ gekürt. Ein Problem hat er damit nicht. „Es ist gut, öde zu sein. Das Vereinsmotto lautet ‚Celebrating the Ordinary.‘ Wir feiern die Normalität. Vieles, was uns interessiert, scheint seltsam, aber es gibt viele Menschen mit schrägen Interessen, meist Männer, und daran ist nichts falsch, dafür muss man sich nicht schämen.“

Mastermind hinter Kalender und Club ist Oberlangweiler Leland Carlson. Vor 30 Jahren gründete der gebürtige Amerikaner den Dull Men‘s Club in New York. „Es begann als Unterabteilung des Athletic Club. In dessen Monatszeitschrift berichteten alle möglichen Abteilungen über ihre aufregenden Aktivitäten: Tennis, Tauchen, Wandern, Karate, solche Dinge. Irgendwann saßen wir an der Bar und sagten: ‚Wir machen nichts von all dem. Ja, meinte ein anderer, wir sind ziemlich öde – lass uns darüber einen Artikel schreiben.'“ Aus dem Artikel wurde eine regelmäßige Kolumne und schließlich der Club. Allerdings sahen sich die bekennenden Langeweiler bald genötigt, einen Aufnahmestopp zu verhängen, und die Zahl der Mitglieder auf 17 zu beschränken. Das war die Zahl der Stühle im Versammlungsraum. Aus dem gleichen Grund verwehrt man bis heute Frauen die Aufnahme („Das wäre zu aufregend! Die fangen dann an, die Möbel umzuräumen oder so – bloß nicht!“)

Bildschirmfoto 2014-11-17 um 21.59.21Als Leland Carlson nach England umzog („Winchester, sehr beschaulich. Das müssen selbst die meisten Engländer auf der Karte suchen“), brachte er den Club mit hierher. Der Kalender hat nun seinem Verein viel Aufmerksamkeit von Seiten der Medien gebracht. Deren Hang zur Übertreibung allerdings ist ein Problem für die Dull Men. „Die Presse macht daraus „die ödesten Männer“. Wir sind nicht die ödesten! Das wäre schon wieder zu extrem. Wir versuchen nicht öder zu sein als alle anderen. Wir feiern die Normalität. Mit den einfachen Dingen im Leben zufrieden zu sein, ist viel besser als Fallschirmspringen zum Beispiel. Da machen wir lieber ein Nickerchen.“

Geschätzt 5000 Mitglieder weltweit hat der Club der öden Gentlemen bereits, die meisten davon – natürlich – in Großbritannien. Neue Anwärter sind aber stets willkommen, die Aufnahmekriterien sind entspannt. Im Kalender findet sich ein Beitritts-Zertifikat, in angemessen öder Farbgebung: „Wir sind sehr stolz auf das Design. Zwei hübsche Grautöne mit einem Hauch von Beige – zwei unserer Lieblingsfarben.“ Woher aber weiß man, dass man ausreichend öde ist für den Verein? Leland verweist auf eine lange Liste mit den Vereins-FAQ’s im Kalender: „Frage Nummer 20 lautet genau so: Was qualifiziert mich als Dull Men? – Nun, wenn Du das alles bis hierhin wirklich gelesen hast, dann bist Du auf dem besten Weg. Und wenn die Antwort auf Frage nach Deiner Lieblingsfarbe ‚Grau‘ ist, ist das sicherlich auch ein Schritt in die richtige Richtung.“

Bildschirmfoto 2014-11-17 um 22.00.13Auch ohne Mitgliedschaft wollen viele Briten an der versammelten Ödnis teilhaben. Sagt jedenfalls Tony Maher vom Kalender-Spezialisten Standford: „Wir verkaufen tausende Kalender pro Woche, und Dull Men of Great Britain 2015 ist momentan unser Bestseller. Es spricht die englische Vorliebe für alles Exzentrische an, Engländer lieben diese Art Humor. Solche Kalender waren schon in den vergangenen Jahren erfolgreich, und der hier wird dieses Jahr wohl unsere Nummer eins werden.“ Der größte Bestseller vergangenes Jahr: Roundabouts of Britain, ein Werk des Kreisverkehr-Fans Kevin Beresford, der auch das Projekt Dull-Men’s-Kalender wesentlich vorantrieb.

Bildschirmfoto 2014-11-17 um 22.00.56Jenseits allen schrägen Humors, scheinen die Dull Men einen Nerv zu treffen. In einer hektischen, überdrehten Gesellschaft setzen sie in ihrer Langweiligkeit einen Kontrapunkt. So sieht das auch die Wissenschaft. Der Club der öden Männer mit ihren öden Interessen hat für Psychologen Mark Coulssonvon der University of Middlesex London therapeutische, fast buddhistische Züge: „Das ist im Prinzip ein uraltes Konzept. Untersuchungsergebnisse zeigen: Wer seine Interesse auf einen sehr bestimmten, engen Bereich konzentriert und ein einfaches Leben führt, der führt ein glückliches Leben. Die heutige Gesellschaft präsentiert uns zu viele Möglichkeiten, zu viele Optionen. Wenn man sich außerhalb dieses Rahmens bewegt und sich auf die eigene Leidenschaft konzentriert, ist das wohl der direkte Weg zum Glück. Wenn man dagegen den Leuten dauernd einbläut, sie müssten außergewöhnlich sein, dann ist das sehr gefährlich.“

Bildschirmfoto 2014-11-17 um 22.01.48 So sehen dann also glückliche Menschen aus! Weil sie stoisch ihren langweiligen Interessen folgen, und dem dauernden Druck widerstehen von Medien, Werbung und Gesellschaft, immerzu cool, schick und aufregend sein zu müssen. Wenn jeder versucht außergewöhnlich zu sein, außergewöhnliches zu leisten, dann werden die wenigen, die sich nichts davon  antun, zur Avantgarde. Bildschirmfoto 2014-11-17 um 22.21.57„Es is trendy, öde zu sein,“ strahlt denn auch Kevin Beresford, der Kreisel-König. „Wir sind der Beginn einer Art Kult-Bewegung, wir loten die Grenzen aus. Die Leute glauben vielleicht, dass wir öde sind, aber in gewisser Weise sind wir das Gegenteil, Pioniere, wenn man so will.“

Der Avantgarde-Kalender für 2016 ist jedenfalls in Planung. Gebucht sind bereits ein Schotte, der seit 20 Jahren penibel Buch über sein Rasenmäh-Verhalten führt (welches damit zu einem Schatz für Klimaforscher wurde), sowie einem Waliser, der hauptberuflich Farbe beim Trocknen zuschaut. Bildschirmfoto 2014-11-17 um 22.21.36Man sieht schon das zugehörige Werbebanner: Dull Men of Great Britain 2016 – Jetzt noch öder! Leland jedenfalls freut sich darauf: Um so einen Kalender zu organisieren, hat man ziemlich viel ziemlich langweilige Arbeit zu tun. Sie sollten mal meine Excel-Tabellen sehen! Seiten um Seiten – herrlich!“

Der Beitrag Dull Men’s Club ist in der Sendung Euromaxx der Deutschen Welle (DW) zu sehen.

Den Kalender Dull Men of Great Britain 2015 kann man bei der Londoner Buchhandlung Stanford’s online bestellen.

Remember, Remember…

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(c) Wikipedia

Jetzt böllern sie wieder. Kaum 48 Stunden hat die Waffenruhe gehalten. Gerade sind die letzten Hlloween-Knaller verraucht, schon kommen unsere beiden Wachkatzen wieder mal mit angelegten Ohren von draußen zur Küchentür herein geschossen, weil irgend ein jugendlicher Knallkopp vor unserem Gartentor einen China-Kracher gezündet hat.

Bonfire Night steht an in England, auch Guy Fawkes Night genannt, nach dem einzigen der 13 Gun-Powder Plot-Verschwörer, an dessen Namen man sich aus Schulzeiten dunkel erinnern kann. Den aber kennt hier jedes Kind, nicht zuletzt wegen der weißen Schnurrbart-Maske, die durch den Film V wie Vendetta bekannt wurde, von der Hackertruppe Anonymous und der Occupy-Wallstreet-Bewegung übernommen wurde.

Wer zum Jahreswechsel nach London reist, und um Mitternacht überall auf den Straßen Raketen und Böller erwartet, der wird ziemlich enttäuscht sein. Sicher, ein großes Feuerwerk gibt es, auf der Themse am London Eye. Wer dahin und am Ende auch noch was sehen will, muss etliche Stunden vorher erscheinen (in diesem Jahr werden sogar erstmals Tickets ausgestellt, Eintritt: 10 Pfund), darf dann meist im Londoner Schmuddelwetter von einem Bein aufs andere treten, zu Big Ben hoch schauen und sich wundern, warum die Zeiger seiner Uhr immer langsamer werden, wenn sie Richtung 12 vorrücken. Das Ergebnis sind eine volle Blase, kalte Füße und warmer Sekt, bevor es endlich rummst. Einzige Alternative: Fernsehsessel und BBC-Übertragung.

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(c) Wikipedia

Ansonsten bleibt London knalltechnisch zum Jahreswechsel auffallend ruhig. Weil sich die Londoner schon verausgabt haben. An Halloween. Und eben jetzt. In den großen Parks wie Battersea werden in dieser Nacht unter dem Gejohle der Umstehenden große Feuer entzündet und Guy-Fawkes-Puppen verbrannt, in Memoriam ihm und seinen Spießgesellen, die im Jahre des Herrn 1605 in katholisch-fundamentalistischem Eifer König James I. mitsamt dem versammelten protestantischen Hochadel zum Teufel bomben wollten, am Tag der Parlaments-Eröffnung in Westminster Palace. Remember, remember, the 5th of November… – den Kollateralschaden hätten sie dabei billigend in Kauf genommen, nämlich jene beistehenden Adeligen, die katholisch waren – also in ihren Augen unschuldig. Aber wenn’s ums Große Ganze geht, darf man nicht so kleinlich sein.

Guy_Fawkes_by_Cruikshank

(c) Wikipedia

Hätte es geklappt, wäre der Knall… ordentlich gewesen. Also, ziemlich ordentlich sogar. Vom Parlament und dem umstehenden Stadtviertel wäre wohl nichts mehr übrig geblieben, so viel Schießpulver hatten die Verschwörer unter dem Parlament gebunkert (in einem Weinkeller, den sie gemietet hatten – so schlicht können Pläne manchmal sein). Und England sähe heute sicherlich sehr anders aus. Aber der Plot wurde entdeckt, weil Blut dicker als Wasser ist, und einer der Verschwörer wenige Tage zuvor seinen Schwager wenig subtil per Brief auf das geplante Feuerwerk aufmerksam machte. Das bezahlte Guy Fawkes mit dem Leben (natürlich erst, nachdem er mit den robusten, epocheüblichen Methoden überredet wurde, die Namen seiner Mitverschwörer preiszugeben, die dann ebenfalls den Weg zum Galgen fanden).

Schon seltsam, dass sich heute so ziemlich alle Bewegungen, die sich für radikal halten und gegen das tatsächliche oder eingebildete Establishment aufbegehren, gegen das „System“ also, sich als Symbol ausgerechnet diesen gescheiterten Attentäter Guy Fawkes aussuchen. Über die Ehrbarkeit ihrer religiösen Motive lässt sich ziemlich gut streiten (Attentatsziel James I. zum Beispiel gilt als deutlich toleranter den Katholiken gegenüber als seine Vorgänger), und auch die politischen Motive, die nicht religiöser Natur sind, scheinen ziemlich zweifelhaft, darunter vor allem nationalistische, und das heißt in diesem Fall antischottische Ressentiments (James I. war zugleich James VI. von Schottland und war soeben in Begriff mit Schottland eine Union zu schmieden – richtig, genau die, von der sich die Schotten kürzlich so gerade eben nicht verabschiedet haben).

Die aktuellen Revolutionäre ficht das nicht an. Vermutlich weil sie’s nicht wissen (möchten?). Übrig geblieben ist nur, dass Guy Fawkes dieser Typ war, der das Parlament in die Luft sprengen wollte, und weil die da oben ja bekanntlich alle Verbrecher sind, kann das schon mal nichts Schlechtes gewesen sein. So kam er auch zur postumen Ehre der Maske (ein interessanter Artikel dazu erschien gerade im Stern).

Dabei hatten er und seine Mitverschwörer  sicherlich alles mögliche im Sinn, aber sicher keine Volksrevolution. Genauso wenig wie Spartakus einen Volksaufstand für Freiheit und Demokratie angeführt hat, und die Aufständischen auf dem Sklavenschiff Amistad für die allgemeine Abschaffung der Leibeigenschaft gekämpft haben.

Remember, Remember

The 5th of November

Gunpowder Treason and Plot

We see no reason

Why Gunpowder Treason

Should ever be forgot!

Aber was bedeuten schon die paar historischen Fakten, wenn eine Maske alles ist, was man braucht, um seinen revolutionären Furor zu bezeugen? Oder auch nur, um eine Nacht lang Spaß zu haben.

Na dann, bollert mal schön…

Reinschauen: 125 Jahre Savoy-Hotel

The Savoy Strand Front in the 1930s

(c) Savoy Hotel

Das hätte sich Peter von Savoyen nicht träumen lassen, als er 1246 vom englischen König einen Londoner Stadt-Palast geschenkt bekam: Ein halbes Jahrtausend später steht auf dem Platz ein schnödes Hotel mit seinem Namen. Immerhin, es ist nicht irgendeine Absteige. In diesem Jahr feiert es Jubiläum. Vor 125 Jahren wurde das Savoy am Londoner Strand eröffnet.

Schon der Empfang ist einzigartig: auf der Zufahrt zum Savoy gilt Rechtsverkehr – die einzige Straße in ganz England. Und das ist nicht die einzige Extravaganz. Vor 125 Jahren an der Flaniermeile Strand eröffnet, ist das Savoy bis heute eine der nobelsten Adressen im Königreich. Und die nobelste Adresse im Savoy belegt den gesamten 5. Stock: die Royal Suite – 325 Quadratmeter, gut 15.000 Euro pro Nacht – Butler inklusive.

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(c) Martin Herzog 2014

„Beim Eintreten haben Sie sicher gemerkt: Es gibt keine Zimmernummer, es ist schlicht die Royal Suite. wenn Sie mir bitte ins Speisezimmer folgen wollen…“ Sean Davorn führt uns durch die Räume. Er trägt den Titel Head Butler und ist Chef der 30 Butler des Savoy. Im Speisezimmer für 12 Gäste macht uns Sean auf die Spiegeltür am hinteren Ende aufmerksam. Dahinter befindet sich die Butler-Pantry. „Sie brauchen ihn nur zu rufen, er steht 24 Stunden zur Verfügung.“

Über Badezimmer („Dampfdusche, Jaccuzzi, Marmor-Waschbecken, Blick auf die Themse mit London Eye und Parlament“) und Ankleideraum („für den Butler das wichtigste Zimmer“) geht es ins Hauptschlafzimmer mit englischem Himmelbett (ein Gästeschlafzimmer gibt es natürlich auch noch, sowie ein großzügiges Wohnzimmer und ein Arbeitszimmer). „Nur eine Kleinigkeit: Die Matratze kostet 25.000 Pfund, rund 30.000 Euro. Jede Feder ist mit Kaschmir-Haar umwickelt. Wenn Sie also als Prinz oder Prinzessin darauf schlafen, wird keine Erbse darunter Sie stören. Sie werden hervorragend schlafen.“

(c) Martin Herzog 2014

Den ganz persönlichen Diener-Service hat das Hotel nach seiner Groß-Renovierung vor einigen Jahren wieder eingeführt, wegen der großen Nachfrage. Für Extrawünsche steht Chef-Butler Sean Davorn seinen Gästen rund um die Uhr zur Verfügung, auch für ungewöhnliche – „solange sie legal sind,“ fügt er schnell hinzu.

Und dann plaudert er aus dem Nähkästchen: Vom Gast, der ihn bat, ein Päckchen beim Juwelier abzuholen, das sich als Collier heraus stellte im Wert von mehreren Millionen Pfund. Vom globetrottenden Geschäftsmann, der in jedem seiner Stammhotels die identischen 200 Anzüge samt Hemden, Schips und Manschettenknöpfen gebunkert hat, und die er bei Ankunft in exakt der gleichen Ordnung vorzufinden wünscht. Vom Gast, der jedes mal mit einem Lineal nachmisst, ob die Überdecken auch exakt gefaltet sind und die Kissen an der gleichen Stelle liegen.

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(c) Martin Herzog 2014

„Einer unserer weiblichen Gäste badet stets in Ziegenmilch. In London kann man alles kaufen, also auch das – aber es muss frische Milch sein. Da wir nicht allzu viele Ziegenherden in London haben, müssen wir sie aus Wales heranschaffen. Der Chauffeur kostet knapp 700 Pfund, die Milch 25 Pfund. Ich erhitze sie in einem großen Topf, bringe es in Eimern hinauf und schütte sie ins Bad. Anschließend gehe ich wieder hinunter und erhitze den Inhalt von drei Dutzend Flaschen Evian-Wasser, damit die Dame sich damit abspülen kann.“ Sean zuckt mit den Schultern: „Ein solcher Wunsch ist etwas außerhalb des Normalen. Aber ich nehme jeden Wunsch eines Gastes ernst.“

Staff standing outside the new main entrance to The Savoy, 1904

(c) Savoy Hotel

So halten es die Mitarbeiter des Savoy schon immer, vom Butler bis zum Türsteher, seit das Grand Hotel 1889 im Theaterviertel Westend seine Türen öffnete. Sein Erbauer war der Inhaber des Savoy Theatre gleich nebenan – das erste öffentliche Gebäude Londons mit elektrischer Beleuchtung.

So setzte auch das Savoy-Hotel von Anfang an neue Maßstäbe: elektrisches Licht auf allen Etagen, Zentralheizung statt Kohleofen, die meisten Zimmer mit eigenem Bad, und mit fließend heißem und kaltem Wasser.

1926 Red Lift & liftman

(c) Savoy Hotel

„Als das Savoy eröffnete, war es technologisch allen anderen Hotels weit voraus“, erzählt Susan Scott, ihres Zeichens Archivarin des Savoy und damit die einzige Hotel-Historikerin weltweit. „Es scheint uns heute vielleicht amüsant, dass fließend warm Wasser eine unglaubliche Innovation bedeutete, aber das auf allen Etagen zu haben, war 1889 sehr ungewöhnlich. Nur zur Veranschaulichung: Das Hotel, das kurz vorher nicht weit von hier in der Northumberland Road eröffnete, hatte 400 Zimmer, davon ganze vier mit Badezimmer. Nicht, dass die Leute dreckig waren, die haben schon gebadet. Aber da musste eben Wasser heiß gemacht und aufs Zimmer gebracht werden. Das kostete dann natürlich extra, ebenso wie Kerzen, oder Kohle für den Ofen. Im Savoy dagegen kostete das Zimmer zwar mehr, aber dafür war das alles inklusive.“ (Fließend heiße und kalte Ziegenmilch sei auf absehbare Zeit allerdings immer noch nicht vorgesehen).

Und noch eine Neuerung gab es im Savoy. Statt einem großen Treppenhaus: elektrisch betriebene Aufzüge samt Liftboy sowie einer Sitzgelegenheit für ängstliche Gäste, die den fliegenden Zimmern anfangs oft nicht recht trauten. Versehen mit moderner Technik fahren sie auch heute noch.

Melba-1904

(c) Wikipedia

Ebenso ungewöhnlich wie die technischen Neuerungen, waren die kulinarischen Kreationen, die im Restaurant serviert wurden. Der erste Küchenchef Auguste Escoffier erfand 1893 für die weltberühmte Operndiva Nellie Melba ein heute weltberühmtes Dessert: Pêche Melba.

Im Savoy Grill steht der pochierte Pfirsich auch 120 Jahre nach seiner Erfindung auf der Karte: Wie sein Vorgänger, bereitet der aktuelle Küchenchef Andy Cook die Nachspeise ausschließlich mit Pfirsich, Himbeere und Vanille-Eis: „Die Chefköche haben das Gericht über die Jahre sehr unterschiedlich interpretiert, von sehr einfach bis sehr komplex. Wir versuchen es hier simpel zu belassen und dem Original-Rezept möglichst treu zu bleiben.“

So kann man im Savoy Grill vergangenen Zeiten hinterher schmecken und sich einreihen in die Riege großer Namen, die hier im Laufe der Geschichte Hof hielten, von Marylin Monroe und Humphrey Bogart über Elizabeth Taylor, John Wayne bis zu Präsident Harry Truman Queen Elizabeth.

(c) Savoy Hotel

Charlie Chaplin ist ebenfalls in den alten Gästekarten verzeichnet. Auch ist ein Foto erhalten, auf dem er auf dem Dach des Savoy zu sehen ist, und seiner Tochter zeigt, wo er auf der Southbank seine (reichlich traurige) Kindheit verbracht hat. Einige Jahre später tanzte an gleicher Stelle Fred Astaire. Überhaupt ist das Dach des Savoy Schauplatz einiger kurioser Geschichten. So schlug ein amerikansicher Profigolfer in den 30er Jahre von hier aus ab, und versuchte einen Eimer in einerm Boot auf der Themse zu treffen. Und zwei Angler verhakten sich in den 1920ern so in einer Diskussion darum, ob es vom Dach des Savoy aus möglich wäre, in der Themse zu angeln, dass die Polizei eines Sonntags morgens das gesamte Embankment sperrte, um genau das herauszufinden (man kann).

Winston Churchill at Savoy n.d. 600dpi

(c) Savoy Hotel

Einer der treuesten Stammgäste des Savoy aber war Winston Churchill. „Er liebte das Savoy. Er kam sein ganzes Leben hierher und brachte oft sein ganzes Kabinett mit zum Mittagessen. Er gründete einen Dinner-Club, The Other Club, der sich übrigens immer noch im Savoy trifft. Und sein letzter öffentlicher Termin war ein Dinner mit diesem Club.“

Manche brachten sogar ihre Haustiere mit, wie Roy Rodgers, der samt Pferd hier Hof hielt. Ein Rockstar, dessen Namen sie nicht verraten will, feierte im Savoy seine Hochzeit, bei der alles in Pink gehalten sein sollte – weshalb sich zwischen all der rosaroten Deko ein Schwarm lebender Flamingos fand. „Ein anderer Gast wollte zum Afternoon Tea seinen Leoparden mitbringen,“ schmunzelt Historikerin Scott, „aber da hat die Hotelleitung einen Strich gezogen. Das Tier musste vor der Tür angebunden warten, bis sein Besitzer zurück war.“

Cheetah

(c) Savoy Hotel

Die reiche Geschichte des Savoy wäre nicht komplett ohne die Hollywoodfilme, die hier gespielt haben. Die Addams Family war hier schon zu Gast, und auch Sean Connery und Catherine Zeta-Jones für den Film Entrapment aus dem Jahr 1999. Und in keine andere Hotelzufahrt hätte Hugh Grant seiner angebeteten Julia Roberts so schön nachjagen können wie im Savoy, in der London-Schmonzette Notting Hill, ebenfalls von 1999.

Die meisten Gäste nehmen sich glücklicherweise ein wenig mehr Zeit für das Savoy – und für London.

Der Beitrag 125 Jahre Savoy-Hotel ist im Kultur-Magazin Euromaxx der Deutschen Welle zu sehen (zum Stream geht’s hier)

Things to do (when in London): Shakespeare’s Globe Theatre

1-IMG_5791Jaja, schon richtig: Der Nachbau des Theaters neben der Tate Modern ist nicht gerade das, was man unter einem Geheimtipp fassen würde. Jeder, der schon mal gegenüber von St. Paul’s die Themse entlang gegangen ist (ich wollte flaniert schreiben, aber das wäre ein recht dreister Euphemismus bei den Menschenmassen, die sich täglich dort entlang schieben), der kennt das kreisrunde Fachwerkgebäude mit dem Reetdach.

Es wurde 1997 an der Stelle eröffnet, an der die Schauspieltruppe The Lord Chamberlain’s Men vier Jahrhunderte zuvor ihre Vorstellungen gaben. Zu ihnen gehörte ein gewisser William Shakespeare. Das rechte Themseufer war zu jener Zeit ein reichlich verrufenes, überfülltes Pflaster, das jede Art von weltlichen  Vergnügungen zu bieten hatte – von puritanische Eiferer wortreich verdammt, und von allen anderen Londoner des angehenden 17. Jahrhunderts dankbar in Anspruch genommen:

(c) Wikipedia

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zahllose Spelunken, Bordelle, Spielhöhlen, sowie natürlich Theater wie The Swan, The Rose, The Hope, und eben auch The Globe, welche sich mit ihrem mehr oder minder anspruchsvollem Programm gegen solche Attraktionen wie das allseits beliebte Bear Baiting behaupten mussten, bei dem unter allgemeinem Juchee eine Rotte wilder Ungeheuer menschlicher oder hündischer Herkunft auf einen angeketteten Bären losgelassen wurde.

1-IMG_5812Theaterleute waren folgerichtig keine umjubelten Künstler und Boten der Hochkultur, sondern hoben sich nur unwesentlich vom gesellschaftlichen Bodensatz ab, der wie von der kloakigen Themse angespült schien, ihrem stinkig-stickigen Schlick entstiegen, um sich an ihrem Südufer festzusetzen: die Halbweltler der Southbank, die Zuhälter und Kleinkriminellen, die Bettler und Kneipenwirte, die Dirnen, die Aussätzigen und Ausgestoßenen (ein ausgezeichneter Artikel über die damaligen Zustände auf der ‚Schääl Sick‘ Londons findet sich hier).

1-IMG_5752In dieser lauschigen Umgebung also wurden die größten dramatischen Werke der englischen Literatur zur Aufführung gebracht, Hamlet und Othello, Ein Sommernachtstraum und Wie es Euch gefällt. Der Chronist Thomas Platter sah hier Julius Caesar. Er beschreibt die hiesigen Theater so:

Täglich um zwei Uhr Nachmittags gibt es in London zwei, manchmal drei konkurrierende Stücke, die an verschiedenen Orten aufgeführt werden, und die besten haben die meisten Zuschauer. Die Spielhäuser sind so konstruiert, dass sie auf einer erhöhten Bühne spielen, damit jedermann eine gute Sicht hat. Allerdings gibt es Galierien und Logen, wo die Bestuhlung besser und komfortabler ist, und deshalb auch teurer… Während der Aufführung werden im Publikum Speisen und getränke serviert, damit derjenige, der dafür bezahlt, eine Erfrischung erhalte.

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sofern nciht anders gekennzeichnet: alle Fotos in diesem Artikel (c) Martin Herzog 2014

Abgesehen von den gereichten Erfrischungen während der Vorstellung, klingt die Beschreibung sehr ähnlich der Atmosphäre, die wir an diesem milden Samstag im Globe Theatre erleben. Wie damals haben wir uns zu einer Nachmittagsvorstellung eingefunden (auch wenn es – elektrifizierter Beleuchtungstechnik sei Dank – inzwischen Abendvorstellunen gibt). Kurz vor 14 Uhr füllt sich der runde Innenraum vor der Bühne. Dort, unter freiem Himmel, muss der Kulturbegeisterte schon sehr kulturbegeistert sein, denn es gibt nur Stehplätze. Bei zweieinhalb Stunden Spielzeit plus Pause nicht jedermanns Sache, auch wenn Tickets hierfür mit budgetschonenden 5 Pfund sehr attraktiv ausfallen (bei 700 Tickets in dieser Kategorie pro Vorstellung gibt es hier zudem gute Chancen, auch kurzfristig Karten zu bekommen).

1-IMG_5797Dennoch: Wir haben zum Glück Plätze auf einer der überdachten Galerien, perfekterweise genau gegenüber der Bühne – spartanische Holzbänke zwar nur, ohne Rückenlehne, aber immerhin mit passablen Sitzkissen (geliehen, 1 Pfund pro Stück), die dafür sorgen, dass das Drama nur auf der Bühne stattfindet und nicht im Bürzel. Der einzige Vorteil der Stehplätze in der Mitte: Kurz vor der Vorstellung tummeln sich die Schauspieler auf der Bühne und halten Schwätzchen mit den Zuschauern. Ob in ihrer jeweiligen Rolle, oder einfach nur so, ist nicht auszumachen.

Dann geht es los, mit handgemachter Musik und mit Gesang. Klingt erst mal nicht nach der schweren Kost, die wir erwartet haben. Kommt aber noch. Zunächst Auftritt King Lear, der keine Lust mehr auf’s Regieren hat, und sein Land und seine königlichen Pflichten gern an seine drei Töchter deligieren möchte, um sich auf sein Altenteil zurück zu ziehen. Keine unvernünftige Idee, das mit der Rente, und offensichtlich eine, der immer mehr gekrönte Häupter der Gegenwart einiges abgewinnen können, siehe  Beatrix, Benedikt, Juan Carlos (nur die hiesige Amtsinhaberin wird sich wohl weiter zieren). 1-IMG_5856Bei King Lear dürften sie es sich aber nicht abgeschaut haben. Denn nachdem er seine jüngste, aufrichtige Tochter aus purer Eitelkeit verstoßen hat, dankt es die übriggebliebene Brut ihrem Vater damit, dass sie ihm nicht einmal die 100 Ritter gönnt, die Lear sich zum eigenen Schutz ausbedungen hat (Frechheit!), was dazu führt, dass der König schließlich allein durch die Grafschaft Kent irrlichtert und dem Wahnsinn verfällt. Wer Kent kennt, weiß, dass diese Möglichkeit dort durchaus real ist…

Ansonsten aber handelt es sich  um eine ziemlich unausgegorene Geschichte aus Missverständnissen, Intrigen, Verrat, Visionen und Wahnsinn, Mord, Folter und Verstümmelung, bei der man sich fragt, mit welchen bewußtseinserweiternden Drogen Shakespeares Bill damals wohl experimentiert hat, als er sich daran machte, diese wirre Story aufzuschreiben. Egal, was es war, er hat jedenfalls zu viel oder zu wenig davon genommen, und kam damit vermutlich den diversen Variationen des im Stück dargestellten Wahnsinns näher als seine eigenen Figuren. Die wirken ziemlich unglaubwürdig und handeln allesamt wenig nachvollziehbar, allen voran der namensgebende König.

Das alles tut dem Kunst-Genuss keinen Abbruch: die Akustik ist grandios (auch wenn wegen des altertümlichen Shakespeare-Englisch das Verständnis einiger 1-IMG_5794Passagen für Nicht-Muttersprachler schwierig bleibt), die Schauspieler spielen hervorragend, die Inszenierung gerät trotz statischem Bühnenbild dynamisch bis rasant – inklusive filmreifer Schwertkampfeinlage – und das Publikum geht begeistert mit.

Lediglich die Tatsache, dass der Großteil des Theaters unbedacht ist, sorgt für Probleme: nicht, wie man vermuten könnte, weil es anfinge zu regnen, sondern im Gegenteil, weil die Sonne sticht, zusticht könnte man sagen. Theatermitarbeiter haben in weiser Voraussicht vor der Vorstellung zwar schon alberne aber zweckmäßige Papphüte im Publikum verteilt, und an jedem Ausgang stehen kostenlos Wasserflaschen bereit. Trotzdem sinken noch vor der Pause die ersten Zuschauer mit Kreislaufkollaps zusammen. Das kennt man hier offenbar, denn innerhalb von Sekunden steht jedes Mal ein Mitarbeiter mit einem Rollstuhl bereit und karrt den komatösen Kandidaten geräuscharm aus dem Rund.

1-IMG_5844Nach knapp drei Stunden senkt sich zwar kein Vorhang, aber wir wissen trotzdem, dass Schluss ist, insofern alle wichtigen Akteure tot sind – König Lear, seine drei Töchter, und auch der eine oder andere Lord. Der Applaus ist begeistert, wir auch, und nach drei imaginären Vorhängen verlassen wir die historische/historisierende Spielstätte zum Ruhme des englischen Barden, ein Loblied auf den Lippen für die Erbauer und Betreiber dieses neuen alten Theaters. Draußen empfängt uns das 21. Jahrhundert, wo wir in guter alter Southbank-Tradition zwar immer noch unsere Geldbeutel festhalten müssen, aber immerhin ist der Geruch aus der Themse deutlich angenehmer als zu seinen Zeiten, und das ist ja auch schon was.

Shakespeare’s Globe
21 New Globe Walk, Bankside
London SE1 9DT
020 7902 1400

Jane Austen trifft ’12 Years a Slave‘: Die wahre Geschichte der Dido Elizabeth Belle

Lady Elizabeth Murray and Dido Belle, once attributed to Zoffany

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Die junge Frau schaut kokett aus dem Bild heraus und lächelt verschmitzt. Nicht nur der Turban und die Schale mit exotischen Früchten in ihrem Arm weisen darauf hin, dass die Portraitierte keine gewöhnliche Adelige des 18. Jahrhunderts ist. Mit dem rechtem Zeigefinger deutet sie auf ihr dunkles Gesicht, als wolle sie sagen: Jaja, ich weiß schon, eigentlich gehöre ich hier nicht hin. Sie scheint nur zufällig in das Bild gestolpert zu sein, und nun wieder möglichst schnell hinaus zu wollen. Doch sie wird zurück gehalten von der zweiten jungen Frau im Bild, die offenbar gerade zu einem klassischen Portrait Platz genommen hat, sittsam mit Buch in der Hand.

Bei den Damen handelt es sich um Dido Elizabeth Belle, und ihre Cousine Elizabeth. Das Bild ist ungewöhnlich, in mehrerlei Hinsicht: Darstellungen farbiger Menschen gab es zahlreiche zur Entstehungszeit dieses Werkes, meist aber waren sie unten im Bild plaziert, und dann als Diener oder Untergebene abgebildet. Nie aber wurden Dunkelhäutige auf Augenhöhe mit Weißen gezeigt, und niemals schauten Sie den Betrachter an. Die Hierarchie – Oben: Weiß, Unten: Schwarz – blieb stehts gewahrt. Hier aber werden die beiden Portraitierten zum ersten Mal gleich berechtigt nebeneinander gesetzt, und mehr noch: neben der dynamischen und exotischen Schönheit Dido wirkt ihre Cousine daneben sehr brav, fast fad. Das ungewöhnliche Portait entstand in Kenwood House in Hampstead Heath, dem Landsitz von Lord Mansfield, der das Gemälde in Auftrag gab.

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(c) Martin Herzog 2014

Dido Belle kommt als Kind nach Kenwood House: die uneheliche Tochter von Maria Belle, einer Sklavin aus der Karibik, und John Lindsey, einem britischen Marine-Offizier und Neffen von Lord Mansfield. Lindsey übergibt sie seiner Obhut – ein gesellschaftlicher Skandal ersten Ranges, spätestens seit Dido zu einer jungen Frau heran wächst, und sie in die adeligen Kreise eingeführt wird: Unerhört, unglaublich, unanständig! zischt man sich in der feinen Londoner Gesellschaft zu. Das Skandalöse ist dabei nicht der für einige Zeitgenossen abstoßende Anblick einer Mulattin. Sondern die Tatsache, dass es sich nicht um eine Dienstmagd handelt, wie es sich gehört, sondern um ein offenbar gleichberechtigtes Familienmitglied. Und dann noch vermögend! Wie man hört, ist diese Person von ihrem kürzlich verstorbenen Vater mit einer ansehnlichen Rente ausgestattet worden, und damit eine gute Partie: 1000 Pfund pro Jahr erhält sie.

Verbindungen zwischen Adeligen und Sklavinnen sind nichts Ungewöhnliches in dieser Zeit – genauso wenig wie die vorhersehbaren Resultate solcher Verbindungen. Aber natürlich als amouröser Zeitvertreib. In diesem Fall aber erkennt der Vater sein Kind an. Im England des 18. Jahrhunderts ist das nicht nur ein gesellschaftliches Stigma, es ist eine Provokation. Vor allem deshalb, weil das Mischlingskind eben jene feine Gesellschaft stets daran erinnert, worauf ihr Reichtum fußt: Sklavenhandel.

1-IMG_2662Dido Belle wächst im Haus ihres Onkels Lord Mansfield auf, dem obersten Richter Englands. Der wiederum hat in seinem Amt als Chief Lord Justice in einer Reihe von Fällen zu urteilen, die den Sklavenhandel zum Gegenstand haben. Es ist die Zeit, in der die Forderungen der Abolitionisten gesellschaftlich mehrheitsfähig werden. Der bedeutendste Fall: Der Prozess um das Sklavenschiff Zong, bei dem die menschliche Ladung aus Versicherungsgründen aneinander gekettet einfach über Bord gekippt wird. Mansfield hat darüber zu befinden. Inwieweit wird die junge Mischlingsfrau in seinem Haushalt sein Urteil beeinflussen?

Stoff wie aus einem Hollywoodfilm. Weshalb sich zwar nicht Hollywood, aber immerhin das britische Schwergewicht Pinewood Pictures und das Britische Filminstitut dieses wenig bekannten historischen Stoffes angenommen, und in Form einer klassischen Liebesromanze verfilmt haben: Jane Austen trifft 12 years a Slave. Die  Handlung ist soweit vorhersehbar, hat aber dennoch deutlich mehr zu bieten als eine reine Kostüm-Schmonzette. Dieser Tage  ist der Film Dido in deutschen Kinos angelaufen, begleitet von der wohlwollenden Kritik internationaler und deutscher Medien.

Pressetermin in Kenwood House. Eine Horde Journalisten der schreibenden und sendenden Zunft ist hierher gekarrt worden, um Schauspieler, Regisseurin und Autorin in historischer Kulisse zu interviewen. Press Junket nennen sich solche Veranstaltungen. Sie sind die Lösung der Filmgesellschaften für das Lechzen der Medien nach Exklusiv-Interviews, und für alle beteiligten Parteien die Pest: Für die Journalisten, weil ihnen jeweils nur ein paar Minuten für ihre Fragen zugestanden wird. Und für die Filmschaffenden, weil ihnen im 5-Minuten-Takt zwanzig Mal hintereinander dieselben mittel-interessanten Fragen gestellt werden.

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Regisseurin Amma Asante

In diesem Fall werden uns jeweils sogar sieben Minuten Interview zugestanden. Nun, wir nehmen, was wir kriegen können. Und erfreulicher Weise sind nicht nur die gediegenen Räume von Kenwood House weit sympathischer als die öden, abgedunkelten Hotelzimmer, die normalerweise als Schauplatz solcher Interviewmarathons dienen. Amma Asante, die Regisseurin, wirkt aufgekratzt und scheint sogar an meinen Fragen interessiert (was bei solchen Gelegenheiten auch nicht immer der Fall ist). Der Film ist ein gediegenes Kostümspektakel in bester Jane Austen-Manier. Und das ist kein Zufall, „ich liebe die Jane Austen-Welt“, schwärmt sie: „Als ich eine junge Schauspielerin war, wollte ich immer in einem solchen Film mitspielen, aber es war unmöglich wegen meinser Hautfarbe. Als jemand der Geschichten erzählt, kann ich nun machen, was ich früher nie konnte.“ Sie schiebt hinterher, dass sie Jane Austen für ein frühes feministisches Genie halte, und von ihr gelernt habe, wichtige Botschaften geschickt und klug, das heißt in einer sanften Art zu übermitteln.

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Drehbuchautorin Misan Sagay

Jane Austen als feministische Vorreiterin – dazu gibt es sicher mehr als eine Meinung. Aber auch Drehbuchautorin Misan Sagay schlägt in diese Kerbe. Der Film – und damit verrät man wohl nicht zu viel – folgt nach bewährtem Muster der Geschichte vom Erwachsenwerden einer jungen Frau und den Schwierigkeiten am Heiratsmarkt des englischen Adels des 18. Jahrhunderts. Das ganze natürlich mit Happy End. Und das müsse auch so sein, sagt Misan Sagay entschieden und lacht: „Für uns Schwarze gibt es nicht allzu viele Happy Ends im Film. Wenn man ein Skript für einen Weißen schreibt, kann man sich diesen Luxus erlauben. Bei uns gibt es das selten, und deshalb wollte ich hier von Anfang an ein Happy End haben. Ich wollte nicht, dass Belle irgendwo strandet, und man sagt: Na, so spielt halt das Leben. Wenn jemand ein unglückliches Ende sehen will, dann gibt es genug andere Gelegenheiten. Nicht in meinem Film!“

So ist das eigentlich Spannende daran nicht die vorhersagbare Liebesgeschichte zwischen Dido und einem – verarmten aber natürlich aufrechten – Pastorensohn (auch wenn Regisseurin wie Autorin im Gespräch pflichtschuldigst abstreiten, dass die prachtvollen Roben und die schnulzige Liebesgeschichte das Verhikel sind, um Zuschauer ins Kino zu locken). Hoch interessant ist der Blick auf die Upper Class des späten 18. Jahrhunderts, und ihrer ganz speziellen Form des Rassismus.

lee-boo-600x505London ist zu dieser Zeit bereits eine multikulturelle Stadt. Menschen jeder Hautfarbe und Herkunft gehören im 18. Jahrhunderts zum normalen Straßenbild. Ganze Stadtteile sind afrikanisch, asiatisch, karibisch geprägt, allein 10.000 Schwarze leben in dieser Zeit in London. Aber eben als Fußvolk, als Bedienstete, nicht als Adelige. Bevor der Stadtteil Bloomsbury durch das British Museum zur besseren Gegend wurde, hatte es einen großen Anteil Schwarzer in der Bevölkerung, darunter viele Freie, sowie ehemalige Sklaven, die es bisweilen sogar zu bescheidenem Wohlstand gebracht hatten. Im schäbigen Hafenviertel Rotherhithe südöstlich der Towerbridge war das geschäftige Treiben kunterbunt in jeder Hinsicht. Im allgemeinen Gewühl zwischen den Lagerhäusern traf man auf so viele Sprachen wie Menschen. Auf dem Friedhof der örtlichen Kirche liegt sogar ein Königssohn aus dem Südseestaat Palau begraben, Prinz Lee Boo, der hier ein halbes Jahr unbehelligt unter der einheimischen Bevölkerung lebte – zur gleichen Zeit, als Dido Belle ein paar Meilen weiter nördlich im noblen Kenwood House aufwuchs.

1-IMG_2644Das aber ist der eigentliche Affront: Diese junge, farbige Frau nimmt nicht den ihr bestimmten Platz ein in der Gesellschaft  – einer Gesellschaft, deren Reichtum auf Sklaverei gründet (vor allem auf den Anbau und die Verarbeitung von Rohrzucker durch Sklaven). „Es handelt sich um Rassismus aus Notwendigkeit,“ sagt Misan Sagay, „wenn Du Dein Geld damit verdienst, Schwarze mies zu behandeln, dann willst Du von diesen Menschen in anderen Zusammenhängen nicht gut denken müssen. Die Upper Class hegte ihren Rassismus, um ihren Lebensstil zu rechfertigen.“

Das ist der Clou der Geschichte von Dido Belle: Rassismus als Oberschichten-Phänomen. Während das einfache Volk offenbar einigermaßen friedlich mit Vertretern anderer Kulturen und Hautfarben auskommt, pflegen die Damen und Herren aus feinerem Hause ihre Ressentiments, weil sie sonst ihr komplettes Wirtschaftssystem infrage stellen müssten.

Im Film wie im Leben hat Dido Belles Großonkel, Chief Lord Justice Mansfield, über einen Versicherungsfall zu richten: den Prozess über das Sklavenschiff Zong, auf dem die Eigner die menschliche Ladung über Bord kippten, um die Versicherungssumme zu kassieren. Sein Urteil trug historisch maßgeblich zur entgültigen Abschaffung der Sklaverei bei. Der Film zeigt  scharf Mansfields moralische Zerissenheit zwischen ihm als Vertreter eben jener Sklavenhalter-Gesellschaft und den Gefühlen seiner Großnichte gegenüber, die ihm nach anfänglichen Vorbehalten ans Herz gewachsen ist wie seine eigene Tochter. So zeigt das Gemälde von Dido und ihrer Cousine wohl auch ein Statement seines Auftraggebers. Nicht in aller Öffentlichkeit natürlich, das wäre wohl zu viel verlangt. Es hing – und hängt – im schottischen Landsitz der Familie.

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Hauptdarstellerin Gugu-Mbatha-Raw

„Nachdem der Film abgedreht war, sind Sarah Gadon, die Elizabeth spielt, und ich dort hinauf geflogen,“ berichtet Hauptdarstellerin Gugu-Mbatha-Raw strahlend. Schon vor dem Film besaß sie eine Postkarte des Gemäldes aus dem Andeken-Shop von Kenwood House, hatte das Original aber noch nie gesehen. „Wir wollten uns das Bild zusammen anschauen – es war so eine Art Mädchen-Pilgerfahrt. Ein Mitglied der Mansfield-Familie hat uns herum geführt, und es war für mich ein sehr besonderer Moment, es zu sehen, nachdem ich Belle so viele Wochen lang verkörpert habe.“

Reinschauen: Im Taxi durch London

Bildschirmfoto 2014-07-16 um 13.52.41London im Taxi? Klar, aber schwarz muss es sein! Black Cabs heißen die Mietdroschken in der Hauptstadt des Königreichs, und ihre Fahrer bezeichnen sich als Cabbies. Knapp zwei Millionen Fahrgäste kutschieren sie pro Woche durch London. Und die meisten Cabbies sind weit mehr als nur Chauffeure: Fahrer, Unterhalter und Stadtführer in Personalunion.

Jeff Thomas ist ein typischer Londoner Cabbie: gemütlich, jovial und mitteilsam. Wie für seine Kollegen, ist Taxifahren für ihn nicht einfach ein Job, sondern ein stolzer Beruf. Über 30 Jahre lang fuhr Jeff als Polizeibeamter der Londoner Met alles, was Räder hatte. Vor 8 Jahren dann wurde aus dem Cop ein Cabbie – und wie die meisten seiner Kollegen, weiß Jeff eine ganze Menge mehr von London als nur den Weg von A nach B, wie wir bald nach unserer Abfahrt am Buckingham Palace feststellen:

Bildschirmfoto 2014-08-07 um 11.27.42„Wenn wir die Mall einbiegen, achtet mal darauf, wie breit die ist. Im Zweiten Weltkrieg konnten hier Flugzeuge starten und landen. Die Ampeln und Straßenschilder konnten weg geräumt werden.“

Kurz darauf biegt Jeff in der Nähe von Victoria Station in eine unscheinbare Seitenstraße ein: „Dieses kleine Hotel hier ist das Goring Hotel, das mit den Flaggen. Hier hat Kate Middleton die Nacht verbracht, bevor sie Prinz William geheiratet hat, gleich um die Ecke vom Buckingham Palace.“

Bildschirmfoto 2014-08-07 um 11.20.15Wie jeder Cabbie weiß Jeff Thomas auch, wo die berühmten Gentlemen‘s Clubs zu finden sind, im Viertel St. James‘ – auch wenn sie von außen oft nur schwer zu unterscheiden sind: „In den letzten paar Jahren haben sie alle Namensschilder abgenommen von den Gentlemen‘s Clubs, weil sie sagen, wenn Du Mitglied des Clubs bist, dann weißt Du, wo er ist, dann muss man dir das nicht sagen. Sie wollen keine Werbung dafür machen.“

Der Preis für eine Fahrt im Londoner Black Cab liegt im internationalen Vergleich im Mittelfeld – dafür ist man oft auch länger unterwegs als anderswo: Die Durchschnittsgeschwindigkeit in der Londoner Innenstadt liegt tagsüber irgendwo bei 15-20 Kilometern pro Stunde: „Die Stadt London will ab nächstem Monat ein generelles Tempolimit einführen von 30 Kilometern pro Stunde. Und wir machen schon Witze: Was, man kann hier 30 fahren? Das geht doch gar nicht!“

Bildschirmfoto 2014-08-07 um 12.20.31Teepause an einem historischen Cabmen Shelter. Die grünen Häuschen dienen den Cabbies heute als Oasen mitten im Londoner Trubel und Zuflucht vor den gefürchteten Politessen: „Die Cab Shelter kamen im 19. Jahrhundert auf, damit die Jungs mal aus ihrem Taxi kamen – denn sie saßen im Freien und waren den Elementen ausgesetzt. Und hier konnten sie sich aufwärmen.“

Die Geschichte der Londoner Taxis geht über 300 Jahre zurück. Damals wurden Cabbies erstmals lizensiert. Auch nach ihrer Motorisierung im 20. Jahrhundert, blieben Londoner Taxis schwarz. Die Black Cabs wurden zur unverwechselbaren Ikone.

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(c) Wikipedia

Seit der großen Londoner Industrie-Ausstellung von 1852 müssen Cabbies ihre Orts-Kenntnisse in einer Prüfung unter Beweis stellen, erklärt stolz Beresford Francis, Jeffs Kollege am Taxistand : „Nach der Ausstellung mussten die Würdenträger nach Hause gebracht werden, aber viele Kutscher hatten keine Ahnung, wie sie fahren mussten. Die Sache landete im Parlament und so wurde The Knowledge ins Leben gerufen.“

The Knowledge – wenn Cabbies von The Knowledge sprechen, dann klingt das ähnlich ehrfurchtsvoll wie Jedi-Ritter, die von der Macht raunen, auch wenn The Knowledge etwas weniger magisch daher kommt.

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(c) London Transport Museum

Jeder angehende Black Cab-Fahrer muss sein Wissen über Londons Straßen vor einer offiziellen Kommission ablegen. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Test, sondern um eine ganze Reihe von Prüfungen, mit steigendem Anspruch von einer Prüfung zur nächsten. Zwischen 18 Monaten und vier Jahren dauert es, bis sich die Cabbie-Kandidaten dieses Wissen draufgeschafft haben, und 70 Prozent aller Prüflinge geben im ersten Jahr auf, heißt es inoffiziell. The Knowledge umfasst dabei nicht nur Straßennamen, sondern auch U-Bahnstationen, Sehenswürdigkeiten, Theater, Hotels, Nachtclubs, sowie die wichtigsten 300 Routen innerhalb Londons. Wer das draufhat, kennt in einem 6-Meilenradius um den Trafalgar Square jede Gasse und jedes Haus, alles ohne GPS. .

Bildschirmfoto 2014-08-07 um 11.26.07Doch selbst das reicht nicht für die Taxilizenz, winkt Jeff ab: „Du brauchst eine Menge mehr: Clubs, Kneipen, Schwimmbäder, Shopping Center, Regierungsgebäude, Verkehrspunkte, wo Leute umsteigen, Taxistände natürlich – hunderttausende Punkte, die man lernen muss. Und das erstaunliche ist, wenn man The Knowledge macht: man kennt sie tatsächlich.“

Neben den 25.000 Londoner Black Cabs gibt es inzwischen  zahlreiche private Taxiunternehmen. 65.000 sogenannte Minicabs fahren auf Londons Straßen, private Fahrdienste, die nicht auf der Straße heran gewunken werden, sondern per Telefon (oder App) bestellt werden müssen. Zusammen transportieren sie 3,2 Millionen Fahrgäste pro Woche (davon 1,8 Mio Black Cabs). Viel Trubel gab es jüngst um die Taxi-App der Firma Uber. In London streikten vor einigen Wochen sogar 5000 Cabbies deshalb. Mit der App werde ihnen auf unfaire Weise das Wasser abgegraben, beschwerten sie sich. „Alles, was Du brauchst, ist ein Smartphone, ein Auto und einen Führerschein, um kommerziell Leute zu transportieren,“ regt sich Jeff auf, „keine Lizenz, keine Überprüfung, kein Nachweis von Ortskenntnis. Im Prinzip setzt Du Dich zu einem wildfremden ins Auto, die keine Ahnung haben, wo sie sind, und wo sie langfahren müssen.“

Bildschirmfoto 2014-08-07 um 12.37.24Einzigartig ist nicht nur das Wissen der Londoner Cabbies, sondern auch der bequeme und geräumige Fahrgastraum mit einigen ganz besonderen Kniffen. Zum Beispiel die schwenkparen Klappsessel gegenüber den normalen Fahrgastsitzen: „Gehbehinderte, jemand mit Rückenbeschwerden, oder alte Leute haben Probleme, ein- und auszusteigen. Dieser Drehsitz hilft ihnen dabei.,“ demonstriert Jeff, und klappt anschließend die serienmäßig eingebaute Rollstuhlrampe aus. Wenn es ein großer Rollstuhl ist, kann er auch die Sitzbank hochklappen. Sein taxi wird dann zum Kleintransporter.

„Ich hatte schon eine Waschmaschine hier drin zusammen mit einem Wäschetrockner. Da konnte jemand einem Angebot nicht widerstehen, kaufte es auf der Stelle, stand damit am Straßenrand. Ich habe die Waschmaschine eingeladen, den Trockner daneben, und sie nach Hause gefahren.“

Bildschirmfoto 2014-08-07 um 11.25.13Wenn es Abend wird, und die Nachtschwärmer London übernehmen, herrscht Rush-Hour bei den Cabbies. Auch die Reichen und Berühmten steigen gern ein bei Jeff Thomas und seinen Kollegen, und verzichten auf die eigene Luxus-Limousine. Der Grund: Mit einem Black Cab kann man prima in der Menge untertauchen. „Mit einem Promi im Wagen fahre ich dreimal um Parliament Square – und habe garantiert keinen Paparazzo mehr am Hals – so viele Blck Cabs wie da herum fahren.“ Eine ganze Reihe Stars hat sich sogar selbst eins zugelegt: Kate Moss, der Sultan von Brunei, das Königspaar von Jordanien. Sogar Prinz Phillip, der Mann der Queen, soll ein Black Cab besitzen.

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soweit nicht anders gekennzeichnet: Alle Fotos in diesem Artikel (c) Martin Herzog 2014

„Die finden es sehr bequem und ideal für ihre Zwecke, einfach einsteigen und rumfahren, ohne von Leuten belästigt zu werden: Guck mal, da ist der-und-der. Wenn Du zur A-Prominenz gehörst, ist das nicht immer lustig, weil Du dauernd bedrängt und schikaniert wirst. Einige Paparazzi sind sehr, sehr aufdringlich. Die Leute wollen einfach ihre Ruhe haben.“

So, wie jeder andere Londoner Fahrgast auch…

Der Beitrag Im Taxi durch London ist in der Kultursendung Euromaxx der Deutschen Welle zu sehen.

Next Stop: Lego

Eine komplette Bushaltestelle aus dänischen Plastikklötzchen – nicht ganz zufällig vor dem Spielwaren-Geschäft Hamley’s in Regents Street: Irgend ein Irrer hat aus aus 100.000 Legosteinen die Haltestelle gebastelt, und pünktlich zur heutigen Busparade fertiggestellt.

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Damit feiert London das Jubiläum des Routemaster, des ikonischen Urmodells des roten Londoner Doppeldecker-Busses, sowie seines Vorgängers (siehe auch hier). Regents Street wird heute gesperrt für Pferde-gezogenen Busse aus den 1820er Jahren, den ersten motorbetriebenen Modellen Anfang des 20. Jahrhunderts, bis zum aktuellen New Routemaster. Der Werks-Chor der Londoner Verkehrsbetriebe wird singen, und Emma Hignett, die Stimme aus den Buslautsprechern, wird anwesend sein, und auf Wunsch die persönliche Ansage für’s Smartphone sprechen.

Die Legohaltestelle soll übrigens über den heutigen Tag hinaus betrieben werden: Noch bis Mitte Juli kann man hier auf Busse warten – letztere leider nicht aus Lego.

Reinschauen: Eine Ikone wird 60

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sofern nicht anders gekennzeichnet, alle Fotos in diesem Artikel (c) Martin Herzog 2014

London ohne rote Doppeldecker-Busse, das ist wie… wie…, na, wie London ohne rote Doppeldecker-Busse eben. Über 6000 davon bevölkern die Straßen und befördern täglich sechseinhalb Millionen Passagiere – das ist doppelt so viel wie die Zahl der Tube-Reisenden, und die Hälfte des Busverkehrs ganz Englands!

Aber nicht alle Doppeldeckerbusse sind gleich. Das Original ist der Routemaster, und der feiert Jubiläum. Londons Bürgermeister Boris Johnson hat deshalb das Jahr des Busses ausgerufen. 60 Jahre nach seinem Dienstantritt fahren immer noch einige wenige der alten Arbeitspferde im ganz normalen Liniendienst auf Londons Straßen, auf den sogenannten Heritage-Linien.

10 Uhr morgens: Schichtbeginn für Linie 9, eine von zwei Routen, auf denen noch eine Hand voll Original-Routemaster-Busse seinen regulären Dienst tut. Im 15 Minuten-Takt pendelt der Jubilar zwischen Trafalgar Square und dem noblen Stadtteil Kensington hin und her (Die andere ist die Linie 15 von Trafalgar Square bis Tower Hill).

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Seit 9 Jahren arbeitet Schaffner Stafford Williams auf dem Routemaster. Seine Jobbeschreibung: an der hinteren Plattform stehen und aufpassen, dass sich niemand beim Ein- und Aussteigen die Gräten bricht, Tickets kontrollieren, freundlich sein, und die nächsten Haltestellen ausrufen – gern auch verbunden mit praktischen Hinweisen, wie dem Ratschlag beim Halt am Kaufhaus Harrods, zunächst eine Bohrmaschine zu erwerben, um schon mal das Loch in der Kreditkarte vorzubohren „Der Schaffner alter Schule musste jede einzelne Haltestelle kennen, egal auf welcher Route er gerade fuhr,“ erzählt Stafford, „besonders für die ältere Generation ist es schön, wenn noch jemand die Haltestellen ausruft, denn das erinnert sie daran, wie es früher einmal war.“

Stafford liebt seine Arbeit, Stammgäste werden schon mal mit Handschlag begrüßt. In einer Stadt wie London ein eher seltener Anblick (und im Vergleich zur Tube, wo es einen Bruch der Etikette bedeutet, mit Unbekannten zu reden, schon fast skandalös).

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(c) London Transport Museum

Für Generationen von Londonern war der Routemaster weit mehr als einfach nur Transportmittel. Seit er 1954 eingeführt wurde, gehört er zur britischen Hauptstadt wie Big Ben und Tower Bridge. Wer das London Transport-Museum besucht, bekommt den Routemaster in allen möglichen Formen und Größen zu sehen, aber natürlich nur in einer Farbe.

Dass es sich dabei um das gleiche Rot handelt wie die berühmten englischen Telefonzellen und die Briefkästen der Royal Mail, ist purer Zufall, sagt Museums-Kuratorin Anna Renton. Aber die Signalfarbe hat dem Ruf natürlich auch nicht geschadet: „Der Routemaster ist zu einer Londoner Ikone geworden. Er ist leicht zu erkennen, vielleicht der bekannteste Bus der Welt, und mit Sicherheit der einzige Bus, den viele Menschen mit Namen kennen. sie wissen: Das ist der Routemaster.“

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(c) London Transport Museum

Seit den 50ern ist er aus dem Londoner Straßenbild nicht mehr wegzudenken. Knapp 2900 Stück wurden gebaut, im Vergleich zu früheren Modellen in Technik und Design weit vorn, sagt Kuratorin Anna Renton: „Der Routemaster sollte so komfortabel sein wie ein privates Auto. Innen gibt es deshalb eine Heizung, sehr gute Beleuchtung, eine Federung, die die Fahrt sehr viel komfortabler machte. Die Sitze waren viel bequemer als alle früheren Bussitze. Und der Fahrer bekam eine Servolenkung. Für ihn war der Bus viel einfacher zu lenken, denn er war leichter durch die Aluminiumkarosserie.“

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Für so manchen Fahrer ist der Routemaster auch heute noch ein Traum, und nicht nur für die ältere Generation: Danni Ducheck ist nicht einmal halb so alt, wie das Schätzchen, das er lenkt. „Meine Mum hat mich im Routemaster immer mit zur Arbeit genommen, wenn wir Schulferien hatten, und ich habe dann ganz vorn gesessen und den Fahrer beobachtet,“ erzählt Dann und grinst. „Und als ich 11 war habe ich gefragt: ‚Wann darf ich den Routemaster fahren?‘ Ich liebe ihn einfach, ich könnte nicht glücklicher sein, es ist so ein großartiges Gefährt, und es zaubert nicht nur ein Lächeln auf mein Gesicht, sondern bei jedem, der mitfährt.“

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Das unverkennbare Markenzeichen des Routemasters ist natürlich die offene Platform hinten, die es ermöglicht, während der Fahrt auf- und abzuspringen – auch wenn das von den Schaffnern nicht immer gern gesehen ist. „Wir fördern das nicht unbedingt,“ sagt Stafford Williams, „einfach wegen des Unfallrisikos: Wenn der Verkehr sich sehr langsam bewegt ist das ok, aber wenn er normal fließt, kann schnell etwas passieren. Hinzu kommen immer mehr Fahrradfahrer, die man beim Abspringen schnell übersieht.“

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(c) London Transport Museum

Die hintere Plattform ist noch ein ganzes Stück älter als der Routemaster selbst. Es gibt sie seit den Tagen der frühen Pferdebusse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, weil man nur so auf das obere Deck kam, wenn Pferde den Bus zogen. Die Plattform war schon ein Standard-Feature, als der Routemaster eingeführt wurde.

Eine Tradition, mit der London natürlich keinesfalls bricht: Seit zwei Jahren rollt der NewRoutemaster über Londons Straßen. Bürgermeister Boris machte den Routemaster-Doppeldeckerbusses 2008 erfolgreich zum Wahlkampfthema und versprach, die einstöckigen Gelenkbusse von Londons Straßen zu verbannen, die sein sozialistischer Amtsvorgänger eingeführt hatte (und die zu allem Überfluss auch noch aus Deutschland kamen – das ging natürlich gar nicht).

Die ersten New Routemaster-Busse wurden Anfang 2012 in Dienst gestellt, bis 2016 sollen es 600 werden – im Vergleich zu den knapp 2900 original Routemaster-Bussen natürlich eine überschaubare Zahl. Außen und Innen entworfen vom Star-Designer Thomas Heatherwick (von ihm stammt die abgedrehte Flammenschale der Olympischen Spiele 2012), ist er zugleich futuristisch und eine Reminiszenz an seinen Ahnherrn.

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In jedem Fall wollen Londoner auf ihren Routemaster nicht verzichten, sagt Schaffner Kayo Meredith: „Die meisten Passagiere lieben den Bus, vor allem die Tatsache, dass man immer noch auf- und abspringen kann – dafür ist der Bus schließlich gemacht. Es ist der alte Routemaster gemsicht mit dem neuen, also muss man auf und abspringen. Es gibt Dir das Gefühl, in das London vor 20 Jahren zu reisen.“

Und so ist der Neue Routemaster auf dem besten Wege, auf der Spur seines Vorgängers zu folgen – als rote Ikone Londons.

Der Beitrag Londons Doppeldecker-Busse werden 60 (Euromaxx, Deutsche Welle) ist hier zu sehen (beginnt bei etwa 9 Minuten)